In Richtung Frauenstimmrecht: Erinnerungen eines Walliser Ehepaars
Monique und Sylvain Zuchuat waren bereits elf Jahre verheiratet, als 1971 die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz beschlossen wurde. Der Tag gilt als historisch. Doch wie viel hat sich konkret für das Ehepaar Zuchuat verändert?
Von Simone Klemenz und Lucien François
In zwei Fragen sind sich Sylvain und Monique Zuchuat an diesem Abend nicht einig. Soll oder nicht um diese Uhrzeit noch Kaffee serviert werden? Nach einer kurzen Diskussion einigt man sich auf Rotwein. Die zweite Meinungsverschiedenheit greift tiefer. Haben Sie je bei einer Abstimmung oder einer Wahl eine andere Antwort auf den Zettel geschrieben?
Für den 88-jährigen Walliser scheint klar: «Wir haben immer gleich abgestimmt und gewählt.» Die sechs Jahre jüngere Monique widerspricht: «Ich habe schon mal anders gewählt als Sylvain, habe ihm aber nicht immer alles gesagt.» Und relativiert: «Das war aber meist bei kommunalen Wahlen. Es gab Kandidaten, die fand ich besonders überzeugend...oder elegant», sagt Monique mit einem Lachen auf den Lippen. «Aber es stimmt, auf nationaler Ebene teilen wir die gleichen Ansichten.»
Ein grosser Moment?
Dass Monique und Sylvain beide abstimmen können, war nicht immer so. Das Paar lernte sich 1954 in Sion im Café du Rallye kennen, wo Monique zu dieser Zeit arbeitete. Für Sylvain gab es keinerlei Zweifel: «Sie war ein Star und bereitete mir meine heisse Schokolade immer im Voraus zu», erinnert sich der Walliser mit leuchtenden Augen. Das Paar heiratet 1960 – zuvor hatten sie sich einige Jahre aus den Augen verloren.
«Sie war ein Star und bereitete mir meine heisse Schokolade immer im Voraus zu.»
Die Einführung des Frauenstimmrechts liess zu diesem Zeitpunkt noch auf sich warten. Im Kanton Wallis erfolgt diese am 12. April 1970 auf kantonaler Ebene. Knapp ein Jahr später, am 7. Februar 1971, wird das Frauenstimmrecht auch auf nationaler Ebene im Rahmen einer Volksabstimmung gutgeheissen. Wobei der Begriff des «Volkes» hier ein relativer ist – allein die Männer durften an diesem historischen Tag abstimmen.
So auch Sylvain Zuchuat, der bereits seit den 1960er-Jahren aktiv für die CVP politisierte und bis heute jede Wahl, jede Abstimmung gespannt mitverfolgt. Er erinnert sich, damals «Ja» gestimmt zu haben. «Es lag auf der Hand, dass auch Frauen abstimmen dürfen. Sie spielten in der Politik immer wichtigere Rollen und waren durchaus dazu fähig.»
Es tut sich was
Auch Monique kann sich noch an den Tag der Abstimmung erinnern: «Das war schon ein Moment. Wir waren nicht länger Dienerinnen.» Hätte sie über die Einführung abstimmen können, so hätte auch sie dafür gestimmt. Nicht alle Frauen hätten diese Ansicht indes geteilt: «Es gab auch jene, die überzeugt waren, Abstimmen sei Männersache. Man muss betonen, dass die Politik damals noch ein Terrain war, wo man oft seine Muskeln spielen lassen musste und es gerade in Cafés zu hitzigen politischen Diskussionen kam. Es war sehr schwierig, als Frau in diesem Milieu mitzumischen», erinnert sich Sylvain.
«Das war schon ein Moment. Wir waren nicht länger Dienerinnen.»
Wirklich überraschend kam die Annahme des Frauenstimmrechts weder für Sylvain noch für Monique. Auch wenn der Kanton Wallis als konservativ gilt, ist es doch in der Walliser Gemeinde Unterbäch, wo sich 1957 etwas Historisches ereignete, wie Sylvain einwirft. Gegen den Willen der Landesregierung erteilte der Gemeinderat den Frauen ein einmaliges Stimmrecht, um über die Einführung eines obligatorischen Zivildienstes für Frauen abzustimmen. 33 Frauen nahmen ihr Stimmrecht war.
Zwar werden die Stimmen im Endeffekt annulliert, doch die Ereignisse in der Oberwalliser Gemeinde erreichten auch Sion, wo Sylvain damals als Fahrlehrer tätig war. «Nach Unterbäch begannen wir Männer über das Thema zu reden, wir haben gefühlt, dass sich die Dinge ändern», erinnert sich der CVP-Mann. «Es war ein historischer Moment...aber vor allem auch eine gute Werbung für die Region», sagt der 88-Jährige und schmunzelt.
«Vor den Abstimmungen diskutieren wir jeweils zusammen, um unsere Meinungen auszutauschen und uns zu einigen.»
Was sich also bereits Ende der 50er-Jahre abzeichnete, wurde 1971 Realität. Zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar 11 Jahre lang verheiratet. Hatte die Einführung des Stimmrechts Einfluss auf die Beziehung der Zuchuats? Kaum, sagen die beiden. Kam es in der Folge zu hitzigen politischen Debatten? Nicht wirklich: «Vor den Abstimmungen diskutieren wir jeweils zusammen, um unsere Meinungen auszutauschen und uns zu einigen», sagt Sylvain.
«Ich habe die Frauen motiviert, sich uns anzuschliessen. In erster Linie, weil viele schlau waren und über einen starken Charakter verfügten.»
Für den 88-jährigen CVPler, ein regelrechtes Urgestein der Regionalpartei, ist die Einführung des Frauenstimmrechts vielmehr das natürliche Ergebnis eines sich bereits seit Langem abzeichnenden Trends und weniger ein Wendepunkt. Sichtlich stolz zeigt der Politiker ein Fotobuch, in welchem er Aufnahmen von verschiedenen von ihm organisierten Parteianlässen säuberlich eingeklebt hat. Frauen sind auf den ersten Bildern kaum zu sehen. Je weiter er blättert, desto mehr weibliche Figuren tauchen jedoch auf und auch Monique ist auf einigen Fotos abgebildet, lächelnd und elegant. «Ich habe die Frauen motiviert, sich uns anzuschliessen. In erster Linie, weil viele schlau waren und über einen starken Charakter verfügten...aber auch, weil so mehr Stimmung aufkam», sagt Sylvain mit einem Augenzwinkern.
Eine Feministin?
Mit der Einführung des Frauenstimmrechts hätte Monique neu auch selbst für ein politisches Amt kandidieren können. Hat sie jemals mit diesem Gedanken gespielt? Monique, die nach der obligatorischen Schulzeit direkt die Hauswirtschaftsschule anhängte, winkt ab: «Ich hatte keine genügende Ausbildung.» Und doch war sie immer wieder mit der Politik in Berührung. «Mein Vater und mein Bruder diskutierten am Esstisch viel über politische Themen. Ich als Tochter habe damals aber kaum das Wort ergriffen. Doch ich hörte genau zu und lernte dabei viel.» Heute ist das anders: Während des Gesprächs lässt Monique gerne den einen oder anderen provokanten Kommentar fallen: «Er redet viel, weiss aber nicht alles», sagt sie einmal über Sylvain und lacht.
«Er redet viel, weiss aber nicht alles.»
Mit ihrem Bruder habe sie zudem mehrfach an Veranstaltungen teilgenommen, an denen Politiker ihre Programme vorstellten. Auch Monique ergriff als junge Frau das Wort, stellte Fragen zu den Themen Familie und Gleichstellung...war sie eine Feministin? Auch wenn ihr die politische Partizipation von Frauen am Herzen liegt, hat die Walliserin nie an den grossen feministischen Kundgebungen Ende der 60er-Jahre teilgenommen. Erst wohnte sie zu abgelegen in einem Bergdorf, später fehlte ihr schlicht die Zeit: «Zu Beginn der 70er-Jahre war ich bereits dreifache Mutter.»
Weibliche Konkurrenz
Die Einführung des Frauenstimmrechts hat Moniques Leben nicht auf einen Schlag verändert. Die zwei Jahre, die die Walliserin als junge Frau in Grenchen (Kanton Solothurn) verbrachte, um dort mit 17 Jahren in einer Uhrenfabrik zu arbeiten, haben sie stark geprägt. «In der Fabrik arbeiteten Männer und Frauen zusammen, auf Augenhöhe», erinnert sich Monique. «Jene Frauen, die gute Arbeit leisteten, erhielten mehr Verantwortung und wurden vor allem auch gehört.» Auch in den Cafés, wo viele politischen Diskussionen stattfanden, waren Frauen willkommen. Mit dieser Erfahrung einer neuen Offenheit kehrt Monique in ihren Heimatkanton zurück. «Ich hatte keine Angst mehr, zu sagen, was ich dachte, und meine Rechte und jene anderer einzufordern.»
«Zu Beginn der 70er-Jahre war ich bereits dreifache Mutter.»
Rund 18 Jahre nach ihrem Aufenthalt in Grenchen sitzt Monique 1976 am Telefon. Ihre Schwester Juliette kandidiert erstmals für das Stadtparlament von Sion. «Ich musste möglichst viele Leute überzeugen, für sie zu stimmen», präzisiert Monique. Sylvain will indes für die CVP einen Sitz erobern und muss es zum ersten Mal mit weiblicher Konkurrenz aufnehmen. Hat Monique auch für ihren Gatten zum Hörer gegriffen? «Der holte ja so oder so genug Stimmen», sagt die 82-Jährige mit einem Augenzwinkern und ergänzt: «Aber selbstverständlich habe ich ihn immer unterstützt.»
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