Eine Schülerin spielt keltische Harfe: Instrumente, die im Sitzen gespielt werden können, sind besonders beliebt.
Eine Schülerin spielt keltische Harfe: Instrumente, die im Sitzen gespielt werden können, sind besonders beliebt. Credit: Anouk Ruffieux
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«Wir wollen neue Horizonte eröffnen»

Musikunterricht Die Association Musique et Seniors in Aigle (VD) bietet Gesangs- und Instrumentalunterricht für Menschen ab 60 Jahren an. Es ist ein personalisierter, köperfokussierter Unterricht.

Alice Caspary

In den Gängen der Musikschule Aigle erklingt Klaviermusik. Eine Stimme legt sich über die Melodie. Es ist die Stimme von ­André, der zum Gesangsunterricht bei Natacha Ducret gekommen ist.Sie ist eine der neun Lehrpersonen der Association Musique et Seniors, die sich in der Musikschule Aigle (VD) einquartiert hat. Der Verein wurde im April 2021 von der Musikerin Catherine Suter ins Leben gerufen und bietet Seniorinnen und Senioren Gesangs- und Instrumentalunterricht à la carte und im Einzelunterricht an, wobei der Schwerpunkt auf dem Körper und dem Hören liegt. Durch ihren Beruf als professionelle Violinistin im Orchestre de Chambre de Lausanne wurde sie auf die Nachfrage der Seniorinnen und Senioren aufmerksam. «Ich habe auch viel Einsamkeit gesehen, was mich dazu inspiriert hat, etwas dagegen zu unternehmen», erklärt sie.

Entdecken, lernen oder sich verbessern – es gibt viele Gründe, aber der Wille ist klar: «Das Ziel ist, dass sie an sich glauben, dass sie ein Projekt haben, das ihnen zeigt, dass mit der Pensionierung nicht alles vorbei ist», sagt Catherine Suter, die von Anfang an durch die positive Wirkung von Musik auf die Gesundheit der Seniorinnen und Senioren und durch den Wunsch, die Szene zu «demokratisieren», motiviert war. «Es interessiert mich, die Vorurteile rund um die Musik zu entkräften.» In diesem Sinne setzt sich die Musikerin in der Musikergewerkschaft für die Mittelbeschaffung ein, damit der Unterricht billiger wird, ohne dass das Gehalt der Lehrerinnen und Lehrer darunter leidet.

Koordination der Atmung

In dem mit Holz ausgekleideten Klassenzimmer erfüllt die tiefe Stimme des 76-jährigen André den Raum. Seit eineinhalb Jahren kommt er jeden Dienstag um 10 Uhr zum Gesangsunterricht. «Schon als Kind habe ich immer gesungen. Das war bei mir ganz natürlich, weil ich ein träumerisches Kind war», erzählt er und lächelt über diese Erinnerung.

Vom Verein hatte er über einen Chorkollegen erfahren. «Ich habe im Chor aufgehört, weil ich etwas anderes machen wollte, insbesondere Gesangsunterricht nehmen.» Und was war seine Motivation? «Ich wollte mich verbessern, weil ich zwar vieles weiss, aber noch nie so grundlegend gearbeitet habe. Dabei entdeckte ich, dass es Dinge gab, die ich sogar falsch gemacht habe!» Der Schüler konzentriert sich voll auf ein schwieriges Opernstück und verfolgt aufmerksam die Ratschlägen der Lehrerin, die ihn am Klavier und mit lyrischer, kraftvoller Stimme begleitet. Sie steht mehrmals auf, um die verschiedenen Körperbereiche zu zeigen, an denen gearbeitet werden soll.

Synchronisation der Hände

Seit zwei Jahren vermittelt Natacha Ducret einen Gesangsansatz, der sich um die Atem­koordination dreht. Solche physiologischen Kenntnisse sind sehr wertvoll, da sie im Zusammenhang mit Musik eine umfassende Arbeit ermöglichen, die individuell auf die Seniorinnen und Senioren eingeht. Ein Gewinn auch für die Prävention angesichts der zunehmenden Gesundheitsprobleme. «Musik zu machen, ist eine Möglichkeit, sich körperlich fit zu halten. Man sieht Verbesserungen beim Hören und bei der Synchronisation der Hände», so Catherine Suter.

«Musik zu machen, ist eine Möglichkeit, sich körperlich fit zu halten.»

Für den Seniorenunterricht werden die Lehrkräfte einmal im Jahr in Musikpädagogik geschult. «Die Person kommt mit ihrem ganzen Lebensgepäck. Einige haben vor 30 Jahren mit dem Musikmachen aufgehört und fangen jetzt wieder an und wieder andere beginnen gerade erst damit. Man braucht ein Gegenüber, das bereit ist, Offenheit und Interesse zu zeigen. Ich wollte Leute einstellen, die Lust haben, sich im Kontakt mit diesen Seniorinnen und Senioren bereichern zu lassen», sagt die Vereinsgründerin, die ihrerseits eine Ausbildung im Musik-Management absolviert hat.

Neue Sensibilität

Nach der Unterrichtsstunde überlässt André seinen Platz der 66-jährigen Agnès aus Ollon, einer Neueinsteigerin, die im letzten November mit dem Unterricht begonnen hat. Locker vor ihrem Pult stehend erzählt sie, dass sie früher schon einmal Gesangsunterricht genommen habe. «Ich habe sieben Jahre Gruppenunterricht genommen. Dann habe ich aufgehört und an der École de jazz et de musique actuelle (EJMA) wieder angefangen, bei einer Dame, die bei sich zu Hause unterrichtete.» Natacha Ducret lernte sie erst während der Corona-Pandemie kennen. «Als wir uns kennengelernt haben, habe ich sofort eine neue Sensibilität entdeckt. Ich habe sie auf den Unterricht angesprochen und komme seither jedes Mal mit Freude», erzählt sie lächelnd.

Während sich André und Agnès für Gesang entschieden haben, ist dies bei den übrigen rund 15 Schülerinnen und Schülern, überwiegend Frauen aus der Region, nicht der Fall. Ihre Ziele sind unterschiedlich. Einige haben ganz bestimmte Wünsche, andere sind völlige Anfänger. «Ein Herr spielt keltische Harfe, ein anderer Geige, eine Dame wollte Gitarre spielen, um ihre Enkelin beim Singen zu begleiten, eine andere lernt Geige, weil sie nie Geige spielen durfte», erzählt Catherine Suter.

Das Hackbrett ist beliebt

Auf Wunsch werden alle Stile angeboten. Während einige Instrumente noch etwas einschüchternd wirken, wie zum Beispiel die Orgel, haben andere bereits ihre Fans, wie das Hackbrett. «Das Hackbrett ist sehr beliebt, weil es folkloristisch ist. Zudem wird es im Sitzen gespielt, sodass keine grossen körperlichen Anstrengungen erforderlich sind. Auch die Orgel ist ein Instrument, das die Leute reizt, aber auch etwas einschüchtert. Aber schliesslich sollen die Leute einfach Spass haben!», sagt Catherine Suter.

Der Unterricht ist zeitlich flexibel und erfolgt in der Regel in Modulen von zehn Unterrichtsstunden, um die Seniorinnen und Senioren zu ermutigen, bis zum Ende durchzuhalten. Und rauszugehen, um Leute zu treffen. «Der Nutzen ist nicht derselbe, wenn die Person nicht aus dem Haus geht. Eine der Lektionen, welche die Seniorinnen und Senioren aus diesen Kursen lernen können, ist, dass der Körper zwar älter wird, man ihn aber immer noch für schöne Dinge einsetzen kann», betont die Violinistin.

Kollektive Workshops

Parallel zum Unterricht werden das ganze Jahr über Konzerte und Gruppenworkshops veranstaltet. «Das ist wichtig für die Schülerinnen und Schüler, weil sie durch diese gemeinsamen Momente sehen, dass sie nicht allein sind.» Und für diejenigen, die es wollen, ist es eine schöne Herausforderung, vor einem Publikum aufzutreten. Am Sonntag, 7. Mai, wird eine kleine Gruppe von Musikliebhaberinnen und Musikliebhabern in der Salle des Glariers in Aigle ein festliches Konzert vor Publikum und in Begleitung von Lehrpersonen geben.

Ein Aufeinandertreffen, das die Philosophie der Association Musique et Seniors widerspiegelt: «Mit diesen Kursen wollen wir neue Horizonte eröffnen», fasst die Gründerin des Vereins zusammen.

Infos: Association Musique et Seniors, Aigle

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