Der Veganismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Trotzdem haftet der Ernährungsweise immer noch die Etikette «urban» an. Dies zeigt sich auf dem Land, wo ein veganes Angebot in Restaurants oder Lebensmittelläden oft vergeblich gesucht wird.
Der Veganismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Trotzdem haftet der Ernährungsweise immer noch die Etikette «urban» an. Dies zeigt sich auf dem Land, wo ein veganes Angebot in Restaurants oder Lebensmittelläden oft vergeblich gesucht wird. Credit: Adobe Stock
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Ein Trend, der bleibt

Bis vor wenigen Jahren war die vegane Lebensweise ein Nischenphänomen. In der Zwischenzeit ist der Veganismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wie lebt es sich heute als Veganerin, als Veganer in der Schweiz?

Andreas Zurbriggen

Milchschokolade, Raclette, Fondue oder Cervelat: Nimmt man die kulinarischen Klischees als Massstab, wirkt die Schweiz nicht gerade wie ein Schlaraffenland für Veganerinnen und Veganer. «Grundsätzlich lebt es sich hier sehr gut als Veganerin», relativiert Sarah Moser. Seit sieben Jahren lebt sie strikt vegan und verzichtet somit auf sämtliche tierische Produkte. Als Geschäftsleiterin der Veganen Gesellschaft Schweiz betreibt sie auch Lobbyarbeit für ihre Lebensweise. «Mir fehlt es an nichts. Die Auswahl an veganen Produkten ist riesig. In den letzten Jahren sind noch viele überzeugende Alternativen zu tierischen Produkten dazugekommen.»

Die Gründe, ganz auf tierische Produkte zu verzichten, sind unterschiedlich. Lehnen die einen eine Ausbeutung von Tieren aus ethischen Gründen ab, wählen andere eine vegane Lebensweise aus gesundheitlichen Überlegungen. Wiederum andere rufen sich ins Bewusstsein, dass die Nutztierhaltung global betrachtet für 18 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich ist – mehr als der gesamte Verkehr – und sehen die vegane Lebensweise dadurch als aktiven Beitrag zum Klimaschutz. Nicht selten kommen gleich mehrere Gründe zusammen.

Milch spielt eine Nebenrolle

Wer vor zehn Jahren ein Lebensmittelgeschäft von Migros oder Coop betrat, fand im Milchregal nebst dem Sojadrink höchstens noch einen Reisdrink als Milchalternative vor. Heute sieht das Bild gänzlich anders aus. In denselben Geschäften haben Hafer-, Mandel-, Reis-, Soja- und Kokosdrinks Hochkonjunktur und die Milch längst in eine Nebenrolle gedrängt. Obwohl die veganen Säfte im Vergleich recht teuer sind. «Tierische Produkte werden nach wie vor massiv subventioniert. Die Preise für vegane Produkte müssen herunterkommen. Die Margen für die Grossverteiler sind viel zu hoch», sagt Moser.

Seit 14 Jahren lebt Sebastian Leugger vegan und setzte sich eine Zeit lang an vorderster Front aktiv für die Bewegung ein.
Seit 14 Jahren lebt Sebastian Leugger vegan und setzte sich eine Zeit lang an vorderster Front aktiv für die Bewegung ein. Credit: Michael Gloor

«Heutzutage wird eine vegane Lebensweise in vielen Kreisen als völlig normal betrachtet.»

Die hohen Margen sieht auch Sebastian Leugger kritisch, attestiert den Grossverteilern aber, dass sie Geld in die Produktentwicklung stecken und ihre veganen Produkte in den letzten Jahren deshalb besser wurden. Seit 14 Jahren lebt der promovierte Philosoph vegan und engagierte sich eine Zeitlang an vorderster Front der Bewegung. «Das vegane Angebot in den Läden ist viel grösser geworden, was mich freut. Bemerkenswert finde ich aber, dass für Produkte, wie etwa einen Haferdrink, die vergleichsweise geringe Produktionskosten haben, immer noch so hohe Preise verlangt werden», sagt Leugger. Seine Vermutung: Die Grossverteiler wollen vom zahlungskräftigen urbanen veganen Milieu profitieren.

Fondue aus Cashewkernen

Sebastian Leugger tüftelt mit einfachen Zutaten eigene Rezepte aus. Er schwärmt: «Es ist erstaunlich, was sich beispielsweise mit Tofu alles für Gerichte zubereiten lassen.» Für ihn ist denn auch das Kreieren von leckeren Rezepten ein wichtiger Schlüssel, damit die Umstellung auf eine vegane Lebensweise längerfristig gelingt.

Von Hürden bei der Umstellung auf die vegane Lebensweise berichtet Sarah Moser, die als Geschäftsleiterin der Veganen Gesellschaft im regen Austausch mit anderen Veganerinnen und Veganern steht. «Oftmals höre ich, dass es vielen Menschen schwerfällt, auf Käse zu verzichten.» Lange Zeit habe es keinen schmackhaften veganen Käse gegeben. In diesem Bereich seien aber in den letzten Jahren einige sehr überzeugende Produkte, etwa auf Cashew-Basis, auf den Markt gekommen. Nun gebe es sogar köstliche vegane Raclette- und Fonduealternativen, sagt Moser. Essen bleibt letztlich ein sozialer Akt. Und da möchte man als Veganerin oder Veganer nicht ausgeschlossen werden.

Essen fürs Klima

In den letzten Jahren hat sich in der Schweiz der Anteil der Menschen, die eine vegane Lebensweise praktizieren von 0,3 auf 0,6 Prozent erhöht, wobei die Zahlen je nach Umfrage stark variieren. Es wurden Statistiken veröffentlicht, die den Anteil an Veganer*innen mit 2,6 Prozent bezifferten. «Das klingt nach wenig, wenn man aber noch die dazurechnet, die als Flexitarier bewusst ihren Fleischkonsum beschränken und für die Problematik sensibilisiert sind, kommt man auf fast 25 Prozent», sagt Moser.

Für Sarah Moser, der Geschäftsleiterin der Veganen Gesellschaft, lebt es sich als Veganerin in der Schweiz sehr gut. 
Für Sarah Moser, der Geschäftsleiterin der Veganen Gesellschaft, lebt es sich als Veganerin in der Schweiz sehr gut.  Credit: Marina Menz

«Die Preise für vegane Produkte müssen herunterkommen.»

Alle paar Jahre erhält die vegane Bewegung neue Impulse. Waren es ums Jahr 2010 die Bücher «Tiere essen» von Jonathan Safran Foer und «Anständig essen» von Karen Duve, die den Diskurs über Veganismus befeuert haben, ist es seit einigen Jahren die Klimafrage, die für neuen Schwung in der Bewegung sorgt. «Seit dem Aufkommen der Klimaschutz-Bewegung Fridays for Future 2018 erleben wir nochmals ein massiv gesteigertes Interesse an der veganen Lebensweise. Viele haben bemerkt, dass der Veganismus ein starker Hebel ist, den man als Einzelperson betätigen kann, wenn man etwas Gutes für die Umwelt bewirken will», so Moser.

Der Stadt-Land-Graben

Auch Sebastian Leugger ist der Meinung, dass der Veganismus langsam in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. «Noch vor zehn Jahren musste ich mich beinahe bei jedem Essen rechtfertigen, heutzutage wird hingegen eine vegane Lebensweise in vielen Kreisen als völlig normal betrachtet.» Eine Diskrepanz konnte in den letzten Jahren jedoch nicht überwunden werden: der Stadt-Land-Graben. Dem Veganismus haften noch immer die Etiketten «urban» und «akademisch» an. Auf dem Land sieht Sarah Moser deshalb noch starken Nachholbedarf. «Wer nur einen kleinen Volg als Einkaufsmöglichkeit in der Nähe hat, kann kaum von der grossen Breite an veganen Produkten profitieren, die in den letzten 15 Jahren auf den Markt gekommen sind.»

Was in ländlichen Regionen oftmals auch fehlt: vegane Angebote in Restaurants. Da bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu kochen. So wie es Sebastian Leugger vormacht und auch Menschen empfiehlt, die einen Schritt in Richtung vegan machen möchten: «Ich wünsche mir, dass viele Leute entdecken, mit welch einfachen Zutaten sich Menüs kreieren lassen und dass dadurch der Veganismus ganz alltäglich wird.»

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