Gemeinsam wohnen, und doch für sich sein
Die Vorteile der Wohngemeinschaft verbunden mit dem Rückzugsort einer eigenen Wohnung – dies sollen Clusterwohnungen bieten. Die neue Wohnform wird immer beliebter. Wie lebt es sich in einer solchen Gross-WG?
Text: Claudia Peter
Neun verschiedene Nachnamen stehen bei der Klingel im ersten Stock auf dem Hunziker-Areal in Zürich-Oerlikon. Wer hinter der Türe aber ein studentisches Wohnheim vermutet, liegt falsch. In der WG leben Erwachsene zwischen 30 und 47 Jahren, die meisten Akademiker*innen, die sich hier zu einer Wohngemeinschaft zusammengefunden haben. Sie leben in einer sogenannten Clusterwohnung. Jede*r hat ein bis zwei Zimmer und ein eigenes Bad. Gemeinsam teilt man sich Küche und Wohnzimmer, Mahlzeiten und Hausarbeiten, Sorgen und Freuden.
Das Leben in Wohngemeinschaften ist längst nicht mehr nur für Studierende. Zwar ist die Schweiz ein Volk von Alleinlebenden. Mehr als zwei Drittel aller Haushalte sind Kleinhaushalte mit einer Grösse von ein bis zwei Personen, wie eine Studie der ETH aus dem Jahr 2019 zeigt. Bezahlbare Kleinwohnung sind aber rar. Kollektive Wohnformen wie das Cluster-Wohnen werden deshalb als Lösungsansatz gesehen.
Gemeinsam genutzte Räume
Was genau eine Clusterwohnung ausmacht, ist je nach Definition etwas unterschiedlich. An manchen Orten sind die Kleinwohnungen in sich vollständig inklusive einer Küche, in anderen wie im Hunziker-Areal haben sie ein Bad, einen Kühlschrank und ein Spülbecken. Einige Clustereinheiten haben einen separaten Vorraum bevor es in die eigentlichen Zimmer geht, bei anderen führt die Türe direkt ins Schlafzimmer. Immer gibt es gemeinsam genutzte Räume wie ein Esszimmer, Wohnzimmer, Küche oder Arbeitszimmer. In manchen Gebäuden wird einfach eine Clusterwohnung eingebaut, im Extremfall wie im Hunziker-Areal besteht ein ganzes Gebäude nur aus Clusterwohnungen.
Mehr als eine Zweckgemeinschaft
Sind die Clusterwohnungen lediglich eine Möglichkeit in einer Zeit steigender Mietpreise günstigen Wohnraum zu finden? Nicht für Hansjörg Temperli. Der 38-Jährige lebt seit fünf Jahren in der Clusterwohnung im Hunziker-Areal und betont: «Wir sind definitiv mehr als eine Zweckgemeinschaft.» Gemeinsam mit seiner Partnerin Elisabeth Papazoglou bewohnt er eine Clustereinheit mit zwei miteinander verbundenen Zimmern und eigenem Bad. Das Paar hat einen Raum als gemeinsames Schlafzimmer und den anderen als kleines Wohn- und Arbeitszimmer eingerichtet.
Wir sind soziokratisch organisiert und haben uns dem Generationenwohnen verschrieben.
Beide nutzen aber die mit der Wohngemeinschaft geteilten Räume sehr gerne, die Arbeitsplätze, das Wohnzimmer mit den vielen Pflanzen, den grossen Esstisch. In diesen Räumen spürt man das WG-Feeling. Die Bewohnenden haben den gemeinsamen Räumen individuelle Noten verliehen, hier eine Naturaufnahme von der Antarktis von jenem Mitbewohner, der fotografiert, dort das grosse Gestell mit den Brettspielen von Temperli. «Wir konnten uns nicht wirklich auf ein Dekorationskonzept einigen», erzählt Temperli. «Stattdessen hat, wer will, eine Ecke oder eine Wand in der Wohnung, die er oder sie gestaltet oder kuratiert.» Das Ergebnis macht die Wohnung gemütlich und familiär.
«Eine effiziente Lebensform»
Auch die Stimmung spiegelt, dass es hier um mehr als einen günstigen Platz zum Schlafen geht. Beim Gespräch in der Küche stellen sich Mitbewohnerinnen und Mitbewohner dazu, erzählen Anekdoten, lachen und scherzen gemeinsam. Ob sie sich als eine Art Familie verstehen? Da sind die Meinungen unterschiedlich, wobei der Diskussionspunkt eher der Familienbegriff als die Art des Zusammenlebens sind. «Wir kennen uns gut und mögen uns und sorgen für einander, wenn es jemandem schlecht geht», sagt Hansjörg Temperli. Auch wenn sie sich als mehr als eine Zweckgemeinschaft verstehen, ist der Alltag in der Gross-Gemeinschaft sehr zweckmässig organisiert. Zeitungsabos werden geteilt, das Essen wird in Grossmengen direkt vom Grossisten in Bioqualität geliefert. «Es ist eine sehr effiziente Lebensform», sagt Temperli und meint damit auch ressourceneffizient. Nicht nur in der Wohnung, sondern in der ganzen Siedlung wird viel geteilt, Werkstatt, Musikräume und die Sauna etwa werden gemeinsam genutzt. Darüber hinaus gibt es Quartiergruppen zu fast jeder Aktivität. «Ich bin zum Beispiel in einer Spielegruppe, andere organisieren das Quartierfest.»
Zeit als Paar eher selten
Nachteile sehen Temperli und seine Partnerin wenige: «Das Einzige, was uns einfällt ist, dass wir uns recht aktiv Zeit für uns als Paar nehmen müssen. Wir gehen dann zum Beispiel bewusst zu zweit auswärts essen oder machen ein verlängertes Wochenende nur zu zweit.» Das Clusterwohnen ist aber für beide definitiv keine Übergangslösung. Temperli sagt mit einem Lachen: «Ich sage immer, hier bleibe ich, bis sie mich auf der Bahre raustragen. Ich kann mir gut vorstellen hier alt zu werden.»
Wie die Wohngemeinschaften in den Clusterwohnungen organisiert sind, kann sehr unterschiedlich sein. Auf dem Hunziker-Areal müssen sich die Bewohnenden in einem Verein organisieren, der als Mieter der Wohnung fungiert. Die Belegung der Wohnung organisiert dann der Verein, respektive die jeweiligen Bewohnenden. Neue Mitbewohnende müssen den Anforderungen der Genossenschaft entsprechen. Im Hunziker-Areal müssen sie sich etwa zu einem autofreien Alltag verpflichten. Für alle Wohnungen sind zudem die Mindestbelegungen definiert.
Altersdurchmischtes Wohnen
Manche Cluster-Wohngemeinschaften haben darüberhinausgehende Ziele, wie etwa die WG «Buntgemischt» im Hunziker-Areal. Im vierten Stock öffnet Andreas Geiger die Türe. Der 41-Jährige wohnt seit sieben Jahren auf dem Areal und erzählt, was bei ihrer Wohngemeinschaft im Vordergrund steht: «Wir sind soziokratisch organisiert und haben uns dem Generationenwohnen verschrieben, was bedeutet, dass wir bei der Belegung aktiv auf den Altersmix schauen.»
Aktuell wohnen zwei Elternteile mit ihren Teenagern in der Wohnung, zwei Paare um die 40 und bis vor Kurzem eine Person, die über 60 ist. «Diese Spannbreite führt möglicherweise auch dazu, dass es etwas anspruchsvoller ist, ein Gemeinschaftsgefühl aufkommen zu lassen», überlegt Geiger. So wird bei ihnen eher weniger gemeinsam zu Abend gegessen, die Leute leben zurückgezogener. «Das finde ich manchmal etwas schade, besonders auch, weil dieser riesige Raum, den wir zu Verfügung haben, selten genutzt wird.» Gleichzeitig schätzt Geiger die Begegnungen mit Mitbewohnenden, die in einer ganz anderen Lebensphase sind oder einen anderen Lebensstil haben: «Ich lerne durch meine Wohnform Menschen kennen, denen ich durch meinen Job oder meinen Freundeskreis nicht begegnen würde. Diesen Austausch finde ich bereichernd.»
Wir kennen uns gut und mögen uns und sorgen für einander, wenn es jemandem schlecht geht.
Geiger engagiert sich in der Genossenschaft, führt Veranstaltungen durch, und schätzt den visionären Geist von «Mehr als Wohnen». «Solche mutigen Initiativen für eine auf vielen Ebenen miteinander kooperierenden Nachbarschaft und gegen die Einsamkeit würde ich gerne mehr sehen.» Gleichzeitig findet Geiger aber auch einfach die Wohnung und die Wohnform grossartig. Er sitzt im Wohnzimmer an einem Bistrotisch mit Blick auf den belebten «Dorfplatz» des Areals. «Wo sonst findet man so etwas: 140 Quadratmeter Wohnraum mit Weitsicht, ein ruhiger Rückzugsort mit Privatsphäre und gleichzeitig diese tolle Gemeinschaft auf dem Areal.»
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