Die Piazza mit Blick auf die Bibliothek mit geöffneten Fenstern: Von den Hockern bis zu den Lampen trägt die Raumgestaltung die verspielte Handschrift von Kueng und Caputo.
Die Piazza mit Blick auf die Bibliothek mit geöffneten Fenstern: Von den Hockern bis zu den Lampen trägt die Raumgestaltung die verspielte Handschrift von Kueng und Caputo.
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Diese Räume versprühen Dolce Vita

Hier gleicht kein Zimmer dem anderen: Die Zürcher Designerinnen Sarah Kueng und Lovis Caputo haben ein Schulgebäude in Winterthur in eine farbenfrohe Wohlfühloase verwandelt.

Text: Sarah Sartorius / Bilder: Studio Paola Caputo

«Die Studierenden arbeiten in ihrem Beruf meist in Uniform und müssen unglaublich viel leisten, die Räume hier sollen sich für sie wie ein stressbefreiter Ort anfühlen», sagt Sarah Kueng. Sie ist zusammen mit ihrer Designpartnerin Lovis Caputo für die Gestaltung der Innenräume des Zentrums für Ausbildung im Gesundheitswesen (ZAG) in Winterthur zuständig. Im Dezember haben sie dafür den renommierten Hauptpreis in der Kategorie Design, den goldenen Hasen der Zeitschrift «Hochparterre» erhalten.

Was beim Gang durch das Schulgebäude als erstes ins Auge sticht, sind die Farben: Bereits vor dem Betreten trifft man im Aussenbereich auf farbige Glasdächer, die sich im Sonnenlicht brechen und leuchtend gelbe und magentafarbene Schatten werfen. Es ist nur ein Vorgeschmack darauf, was Besuchende im Innern erwartet. Sandfarbene Böden treffen hier auf lindgrüne Wände, grün gesprenkelte Böden auf weinrote Wände. In der Aula knallen orange auf blaue Vorhänge und stehen im völligen Kontrast zu den pfirsichfarbenen Wänden. Die Turnhalle kommt im «aktivierenden» Gelb daher und hat fast etwas Aggressives.

Treffpunkt Piazza

Fest steht: Die Farben evozieren sofort Gefühle und Stimmungen. «Die unterschiedlichen Farbtöne sollen die Vielfältigkeit der Situationen widerspiegeln, denen die Studierenden in ihrem Berufsalltag begegnen. Keine Situation gleicht der anderen, so wie auch hier kein Schulzimmer dem anderen gleicht», erklärt Kueng. Im Zentrum der Gesundheitsberufe stehe zudem immer die Beziehung zwischen Menschen. «Alle öffentlichen Räume sollen deshalb zum Austausch einladen», sagt die Designerin.

Herzstück ist der offene Eingangsbereich, die sogenannte Piazza. Es ist ein grosszügig gestalteter Aufenthaltsraum mit frei verschiebbaren Tischen, Stühlen und Bänken und geheimnisvollen, organisch geformten schwarzen Stimmungsleuchten an der Wand. Um die stützenden Säulen, die überall im Gebäude zu finden sind, hat das Duo runde Tischchen anbringen lassen, auch dies ein Treffpunkt im Kleinen, um Kaffee zu trinken und sich im Stehen auszutauschen. Sogar die Flure zwischen den Schulzimmern laden mit Bänkchen und Tischen zum Verweilen ein, Stradine (enge Gasse) heissen sie in der Sprache von Kueng und Caputo, als sei das Studium ein Dolce-Far-Niente-Aufenthalt in Italien.

In der Aula muss sich das Auge erst an die wilden Farbkombination gewöhnen.
In der Aula muss sich das Auge erst an die wilden Farbkombination gewöhnen.

Spaghetti statt Tupperware

Die Fenster der Bibliothek, mit Folie bezogene Stegplatten, die ein rosa, südländisches Licht werfen, lassen sich beidseitig öffnen. Am langen Tisch mit der hellblauen Linoleumtischplatte kann gesessen und gearbeitet werden. Im obersten Stock befindet sich die Piazza Alta, ein Aufenthaltsraum mit riesiger Dachterrasse und voll ausgestatteter Küche. «Dahinter steckt der Gemeinschaftsgedanke: Vielleicht kocht man mal zusammen einen Topf Spaghetti, anstatt, dass alle ihr Tupperware-Essen in der Mikrowelle aufwärmen.»

Kennengelernt haben sich Lovis Caputo und Sarah Kueng an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Das Studium haben sie 2009 in der Fachrichtung Industrial Design abgeschlossen und bereits mit ihrem ersten gemeinsamen Projekt, einem Kartonhotel, für Aufsehen gesorgt. 2020 wurden sie mit dem Schweizer Grand Prix Design des Bundesamtes für Kultur ausgezeichnet. Mit Möbeln aus Backsteinen oder Teppichen aus Granulat thematisiert das Duo, oft mit einem Augenzwinkern, immer auch Nachhaltigkeit und Recycling.

61 Farbkombinationen

Design im öffentlichen Raum zu integrieren und nicht nur in der Galerienbubble präsent zu sein, war schon länger ein Wunsch der beiden. Ein Glücksfall also, als ein Mitarbeiter des Hochbauamtes des Kanton Zürichs auf sie zukam. Er war zu Besuch im Restaurant Silosilo in Zürich, dessen Innenräume von Kueng und Caputo gestaltet wurden und wünschte sich für das Schulhausprojekt einen ähnlich verspielten Touch. Auch die Schulleitung war sofort begeistert von der Idee, das Schulgebäude nicht einfach im 08/15-Stil umzusetzen und holte die Belegschaft an Bord.

Die unterschiedlichen Farbtöne sollen die Vielfältigkeit der Situationen wider­spiegeln, denen die Studierenden in ihrem Berufsalltag begegnen.

Das ehemalige Bürogebäude aus den 90er-Jahren hinter dem Bahnhof Winterthur wurde vom Architekturbüro Bednar Steffen umgebaut, Mieterin ist der Kanton. Kueng und Caputo wurden erst nur für den Eingangsbereich angefragt, nach und nach kamen immer mehr Räume dazu. Am Ende war das Duo für die Gestaltung der 34 Schulzimmer, Lehrerzimmer, Ruheräume und weiteren Aufenthaltsräume zuständig. Auch die Konzeption und Herstellung der Möbel und Lampen lag bei ihnen. Teils selbst hergestellt, alle regional produziert, in Zusammenarbeit mit lokalen Schreinereien. Die Decken- und Schwenklampen sind Unikate von Kueng Caputo, hergestellt aus Armierungsgittern und Spritztapeten.

Dass Einschränkung manchmal zu überbordender Kreativität führen kann, beweisen die beiden Designerinnen. Vor ihrem Einbezug war das Budget bereits gesprochen und es stand fest, dass die Böden aus Linoleum bestehen müssten und die Wände aus Glasfasertapete mit Dispersion. Sarah Kueng und Lovis Caputo bestellten Samples von allen europäischen Linoleumherstellern. Die Farben für die Wände mischten sie selbst und einigten sich schliesslich auf 61 Farbkombinationen von Boden, Wand und Sockelleisten.

Das blaue Schulzimmer wirkt beruhigend.
Das blaue Schulzimmer wirkt beruhigend.

Farben als Navigationssystem

Bereits die Treppenstufen, die in die nächste Etage führen, sind in der Farbe des Bodens gehalten. «Die Farben sollen auch als Navigationssystem dienen, à la: Ich muss in den blauen Stock, oder ins gelbe Schulzimmer.» Tagelang haben die beiden Farbkombinationen getestet, wer in dieser Zeit ihr Atelier besuchte, musste Auskunft darüber geben, wie sie sich beim Anblick der Farben fühlten: Nervt die Farbe oder beruhigt sie? Ein Farbexperte gab zudem seine Expertise ab und bezeichnete manches als unkonventionell, etwa, dass die Wände teils dunkler als die Böden sind.

Doch Kueng und Caputo liessen sich nicht von ihrem Farbexperiment abbringen. Beim Durchgang spricht die Designerin liebevoll vom italienischen, dem mexikanischen oder dem «Sahara-Raum». Betritt man einen roten Raum, nimmt man die roten Nachbarhäuser vor dem Fenster völlig anders wahr. «Farbige Räume lösen mehr Assoziationen aus, als weisse», sagt Kueng.

Jetzt, ein halbes Jahr nach der Eröffnung im Sommer 2023, ist der Alltag in die Räume eingezogen. Das Standardmobiliar mischt sich unter die designten Möbel und belebt die Räume. Flipcharts, Petbehälter, E-Trottinette, Kritzeleien auf Tischplatten: Kueng mag diese Kombination aus Gebrauchsgegenständen und Design.

Als nächstes grösseres Projekt steht die Gestaltung einer Demenzabteilung an. Klar, dass Sarah Kueng und Lovis Caputo auch hier mit Farben arbeiten werden: «Es gibt so viele Farben in unserer Welt, es wäre schade, sie nicht zu zeigen.»

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