Valeria Kägi, Co-Studiengangleiterin 
CAS Forensic Nursing.
Valeria Kägi, Co-Studiengangleiterin CAS Forensic Nursing. Credit: zvg
Bildung

Einen Umgang mit Gewalt finden

Seit das Institut der Rechtsmedizin der Universität Zürich den CAS in Forensic Nursing anbietet, ist die Nachfrage stark gestiegen. Er richtet sich an Pflegefachpersonen, die in ihrem beruflichen Alltag mit Gewaltbetroffenen konfrontiert sind.

Denise Muchenberger

Valeria Kägi erinnert sich noch gut an jenen Fall im Sommer vor über zehn Jahren: Es war drückend heiss im Viererzimmer auf der Unfallchirurgie, wo sie als Pflegefachfrau arbeitete. «Dann kam ein neuer Patient ins Zimmer, der einen Patienten-Effektensack mit seinen Kleidern und Wertgegenständen bei sich trug», erinnert sie sich. Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch der Gestank des Blutes an den Kleidern im Sack war derart intensiv, dass Valeria Kägi reagieren musste: «Also habe ich den Patienten gefragt, ob jemand die Kleider abholen würde oder ob ich sie entsorgen könne.» Der Patient gab an, dass er die Kleider nicht mehr benötige. Ihr Bauchgefühl sagte Valeria Kägi jedoch, dass sie den Sack aufbewahren sollte. Zurecht, denn nur sechs Stunden später kam die Polizei vorbei.

Mir wurde bewusst, dass mir das Wissen über den Umgang mit gewaltbetroffenen Patienten fehlt.

«Da wurde mir bewusst, dass mir das Wissen über den Umgang mit gewaltbetroffenen Patienten fehlt. Wir erhalten Informationen zu Verletzungen, welche Infusionen der Patient benötigt, ob ihm Bettruhe verordnet wurde, aber nicht, ob weitere Untersuchungen anstehen und wie wir eben diese unterstützen können.» Hätte sie die Kleider entsorgt, hätte Kägi womöglich wichtiges Beweismaterial vernichtet. Also hat die Pflegefachfrau angefangen, sich über Weiterbildungsangebote zu informieren und ist auf den Studiengang CAS Forensic Nursing aufmerksam geworden.

Spuren der Gewalt: Die Studierenden lernen, Verletzungen bis ins kleinste Detail zu untersuchen.
Spuren der Gewalt: Die Studierenden lernen, Verletzungen bis ins kleinste Detail zu untersuchen. Credit: Swiss Association Forensic Nursing (SANF)

Warteliste für Bewerbende

Professor Michael Thali vom Institut für Rechtsmedizin (IRM) der Universität Zürich hat ihn im Jahr 2015 ins Leben gerufen. «Die Idee für diesen Studiengang entstand bei einem Treffen mit Virginia Lynch an einem Kongress auf Bali», erklärt der Rechtsmediziner. Die Amerikanerin Lynch gilt als Pionierin des Forensic Nursing, hat mehrere Bücher darüber publiziert und ihren Schweizer Kolleg*innen dazu ermutigt, das Thema aufzugreifen.

Um den Studiengang zu konzipieren, arbeitete das IRM mit Staatsanwältinnen, Kriminaltechnikern, Polizistinnen und psychologischen Diensten zusammen. Den ersten Studiengang schlossen 15 Pflegefachpersonen ab, darunter auch Valeria Kägi, seither ist die Nachfrage stark steigend. «Dieses Jahr haben wir eine Klasse mit 33 Studierenden, ausserdem führen wir eine Warteliste», sagt Michael Thali. Er und Co-Studiengangsleiterin Valeria Kägi sichten die Bewerbungen samt Motivationsschreiben gemeinsam, laden je nachdem auch zu einem persönlichen Gespräch ein und entscheiden im Anschluss, ob sich eine Person für den CAS in Forensic Nursing eignet.

CAS Forensic Nursing – Die Eckdaten

De Studiengang CAS Forensic Nursing richtet sich an Pflegefachpersonen mit einem FH- oder einem vergleichbaren Abschluss. An 10 Präsenztagen im Jahr werden Bereiche wie Recht, Rechtsmedizin, Traumatologie, Genetik, Psychiatrie, Polizeiarbeit und Ethik behandelt. In Praxisübungen werden Verletzungen untersucht und dokumentiert. Die Nachfrage ist seit dem Start im Jahr 2015 um fast das Dreifache gestiegen. Bis anhin haben 140 Pflegefachpersonen die Weiterbildung abgeschlossen, darunter mehrheitlich Frauen, der Männeranteil beträgt circa 5 bis 10 Prozent. Das CAS in Forensic Nursing kostet 4 900 Franken.

Ergänzung, kein Ersatz

Im Studium lernen die Pflegefachpersonen, körperliche Spuren und Verletzungen bis ins kleinste Detail zu untersuchen und zu dokumentieren. Auch Valeria Kägi geht jeweils schematisch vor, wenn sie im Delegationsdienst von Ärzt*innen ausrückt. Sie hat ihre Stelle als Pflegefachfrau im Spital aufgegeben und arbeitet mittlerweile als eine von zehn Forensic Nurses am Institut für Rechtsmedizin der Uni Zürich – die Stellen wurden neu geschaffen.

Wenn sie auf eine gewaltbetroffene Person trifft, untersucht sie die Verletzungen vorsichtig, dokumentiert von einem abgebrochenen Fingernagel bis hin zu Schnittwunden oder Blutergüssen alles und schreibt im IRM ein detailliertes Gutachten, das an die Staatsanwaltschaft geht. Ihr Gutachten sei eine Ergänzung, sagt sie: «Wir ersetzen die Arbeit von anderen Instanzen wie Ärzten und Kriminaltechnikern nicht, sondern unterstützen sie.» Kägi sieht sich als Schnittstelle zwischen der medizinischen Versorgung und der Wahrung der Rechtssicherheit.

Oft mit Gewalt konfrontiert

Einen offiziellen Arbeitsmarkt wie in den USA gebe es hierzulande noch nicht, sagt Valeria Kägi. Die meisten Pflegefachpersonen, die den CAS in Forensic Nursing absolvieren, nutzen ihr Fachwissen im Spital- oder Klinikalltag, vor allem auch auf Notfallstationen. «Rückblickend denke ich, dass ich als Pflegefachfrau sehr oft mit Gewalt konfrontiert war und keinen richtigen Umgang damit fand. Es ist aber wichtig, dass sich die Spitäler damit befassen, auch, um mehr Sensibilität für gewaltbetroffene Patienten zu entwickeln.»

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