Einen Tag pro Woche nimmt sich Coop-CEO Philipp Wyss (links) Zeit, um sich mit den Mitarbeitenden in den Filialen auszutauschen.
Einen Tag pro Woche nimmt sich Coop-CEO Philipp Wyss (links) Zeit, um sich mit den Mitarbeitenden in den Filialen auszutauschen. Credit: Philippe Welti
Bildung

Vom KV- und Metzgerlehrling zum Manager und Chef von 95000 Mitarbeitern

«Nicht im Traum» hätte er sich als Lehrling vorstellen können, einmal Chef von Coop zu sein. Heute ist Philipp Wyss Konzernchef des zweitgrössten Arbeitgebers im Land. Jungen Menschen rät er, bei der Vorbereitung auf das Berufsleben die Leidenschaft in den Vordergrund zu stellen.

Philippe Welti

«Man wird nicht geboren als CEO von Coop. Es braucht auch etwas Glück. Ich wurde im Unternehmen gefördert, aber auch von meinen Lehrmeistern.» Der Werdegang war für Philipp Wyss nicht vorgezeichnet. Er hätte auch in der Textilbranche als Einkäufer glücklich werden können, sagt er. Als entscheidend für Karrieren und persönliches Glück nennt er die Leidenschaft. «Man muss offen und neugierig sein, sich für Neues interessieren, dann kommt es gut», sagt er.

Seine Berufsausbildungen sei seine beste Vorbereitung aufs Leben gewesen. Heute ist Wyss ein Beispiel dafür, dass man in der Schweiz auch ohne Studium an einer Universität oder Fachhochschule Karriere machen kann. Ohne berufsbegleitendes Studium hat er sich intern emporgearbeitet – Stufe um Stufe. Seit drei Jahren ist er nun Konzernchef des Detailhändlers, und die Arbeit macht ihm immer noch Spass, wie er sagt. Auf die Frage, was ihn glücklich macht, sagt er spontan: «Das Bild einer grasenden Kuh, die ohne Kraftfutter auskommt, macht mich glücklich.»

«Ich wollte arbeiten»

Wie viele andere in seinem Alter wusste Philipp Wyss als Jugendlicher nicht so recht, wohin ihn sein Weg führen sollte. Nach der Primarschule ging er in die Kantonsschule nach Sursee, wo er ein guter Schüler war. Rechnen und Sport liebte er besonders. Nach neun Jahren Schule hatte er genug vom Lernen und verliess das Gymnasium. Er brauchte Abwechslung und hatte Lust, Erfahrungen im Berufsleben zu machen.

Philippe Wyss – ein CEO, ohne Berührungsängste. Hier in einer Verkaufsstelle in Lausanne.
Philippe Wyss – ein CEO, ohne Berührungsängste. Hier in einer Verkaufsstelle in Lausanne. Credit: Philippe Welti

Nach verschiedenen Schnupperlehren entschied er sich für eine KV-Lehre bei der Frischfleisch AG in Sursee im Kanton Luzern. Ausschlaggebend für seinen Entscheid war das Interesse am Handel. Dieser widerspiegelt jedoch nur einen Aspekt der kulinarischen Reise vom Gras auf der Weide zum Kotelett auf dem Teller. Wyss wollte die Produktion von Fleischwaren kennenlernen, interessierte sich auch für die Tierhaltung und spielte nach dem Lehrabschluss mit dem Gedanken, noch eine zweite Lehre als Metzger zu absolvieren. Prägend sollte für ihr die Begegnung mit einem Freund seines Vaters werden.

Walter Amrein führte damals einen Metzgerbetrieb in Büron. Dieser erkannte das Interesse und das Potenzial des jungen Mannes und offerierte ihm eine Lehrstelle. Wyss absolvierte sodann die Lehre zum Fleischfachmann, die damals noch «Metzger B» hiess. Dank seinem KV-Abschluss wurde ihm dabei ein Jahr geschenkt. Zum Abschluss sagte Amrein: «Du musst einmal CEO werden von Bell.» Diese Worte hat Wyss heute noch im Ohr. Seine Antwort: «Scho guet, aber ich gehe jetzt zuerst einmal ins Militär.»

Philipp Wyss kommt auf die Welt

«Am Anfang war es schon brutal hart, um vier Uhr in der Früh schon am Arbeitsplatz in der Metzgerei zu sein», erinnert sich Wyss heute. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Heute weiss er, dass in einem Kleinbetrieb die Arbeitszeiten nicht so geregelt sind, wie hinter einer Coop-Metzgertheke. «Ich kam auf die Welt», sagt er rückblickend.

Seinem Lehrmeister ist er jedoch auch sehr dankbar, denn dieser hat ihm den Unternehmergeist eingeimpft, den er als Konzernchef von Coop noch heute braucht. Walter Amrein bezog seinen Lehrling auch in den Verkauf ein. So lautete beispielsweise in Auftrag: «Heute besuchen wir das Spital Sursee. Überlege dir, welche Produkte wir dort anbieten sollen und weshalb.»

Lebenslanges Lernen

Nächste Folge der Serie: Beilage «Bildung» vom 22./23. Mai 2024

Wyss durchlief aber nicht nur eine Verkaufsschule, sondern erhielt weitere Werte vermittelt, die er verinnerlicht hat. Zum Beispiel, dass gesunde Lebensmittel wertvoll und nicht auf der ganzen Welt selbstverständlich erhältlich sind. Aber auch, dass man als Fleischproduzent seinen Tieren eine artgerechte Haltung schulde. Kurz: Wyss profitierte von einer breiten und umfassenden Ausbildung.

Den Abschluss seiner Lehre feierte er bis in die frühen Morgenstunden mit Freunden des Turnvereins STV Büron in der Metzgerei. Dort zeigte er ihnen, was er als Metzger draufhatte und wie man wurstet. «Einen Cervelat muss man einfach einmal selbst hergestellt haben. Dann schätzt man ihn noch mehr», ist Wyss noch heute überzeugt. Insgeheim wollte er seine Freunde für das begeistern, was er von seiner Ausbildung fürs Leben mitgenommen hat: Die Liebe zu den Lebensmitteln und deren Herstellung.

Wissen, woher man kommt

Den Lebensmitteln und dem Handel blieb Wyss treu, als er danach in verschiedenen Firmen Berufserfahrungen sammelte. Seit 27 Jahren arbeitet er nun bei Coop, wo er als Leiter Frischprodukte einstieg und Stufe um Stufe emporstieg. Seine Weggefährten schätzen an ihm seine offene Art und seine hohe Sozialkompetenz. 2021 ernannte ihn der Verwaltungsrat zum Konzernchef. Heute ist er Chef von rund 95 000 Mitarbeitenden und erwirtschaftet mit der Coop-Gruppe einen Umsatz von über 34 Milliarden Franken im Jahr.

Wenn man mit Philipp Wyss redet, merkt man sofort: Der Mann ist kein abgehobener Manager. Er findet den Draht zu einem Verkäufer ebenso schnell wie zu einer Managerin oder zu einem Journalisten wie mir. Wyss hat auch nie vergessen, wo er herkommt und wie er ins Berufsleben startete.

Das Bild einer grasenden Kuh, die ohne Kraftfutter auskommt, macht mich glücklich.

Dass ihr oberster Chef auch einmal Lehrling war, hat sich bei den Lernenden herumgesprochen. Für seine Mitarbeitenden an der Front nimmt sich Wyss einen Tag pro Woche Zeit, besucht sie in den Filialen und tauscht sich mit ihnen aus. Wichtig ist ihm, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen können. «Mein Lehrmeister hat schliesslich auch Vertrauen in mich gesetzt.» Bei Wyss sind dies keine leeren Worte: In Deisswil bei Bern eröffnete er vor einem Jahr einen Coop-Supermarkt, der von acht jungen Männern und Frauen in Ausbildung selbstständig geführt wird. «Sowohl von den Kunden als auch von den Lernenden höre ich nur Gutes. Das freut mich riesig.»

Eine Lehre fürs Leben

Philipp Wyss ist ein leidenschaftlicher Verfechter des Bildungssystems in der Schweiz und davon, dass alle selbst entscheiden können, ob nun ein Studium oder eine Berufsausbildung das Richtige ist. Jungen, die gerne anpacken und den Berufsalltag kennenlernen möchten, rät Wyss, eine Lehre zu machen. «Es gibt viele gute und zukunftsträchtige Berufsausbildungen. Eine bessere praxisnahe Vorbereitung auf einen Beruf gibt es nicht.»

Ob einmal ein ehemaliger Lehrling in seine Fussstapfen bei Coop tritt, weiss er nicht. Was er aber aus eigener Erfahrung sagen kann: «Wenn man will, Talent hat und fleissig ist, ist alles möglich.» Solange er noch Freude am Job hat, will Wyss weitermachen.

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