Auch Strafgefangene drücken die Schulbank
Wenn jemand wegen einer Straftat hinter Gitter kommt, sitzt er oder sie die Haftzeit nicht untätig ab. Vielmehr müssen Menschen in Haft einer Arbeit nachgehen. Manche machen sogar eine Lehre im Gefängnis.
Alexandra Bucher
Inhaftierte Straftäter*innen sind zur Arbeit verpflichtet. So will es das Gesetz. Der Grund dafür: Die Inhaftierten sollen den Bezug zum Leben in Freiheit und zur Arbeitswelt nicht verlieren. Gehen sie während der Haft einer sinnvollen Beschäftigung nach, wird es nach der Haftzeit leichter für sie sein, sich wieder ins soziale Leben und besonders ins Berufsleben einzubringen.
Gefängnisinsass*innen arbeiten in anstaltsinternen Produktions-, Dienstleistungs- und Versorgungsbetrieben wie Küche, Wäscherei, Industrie, Atelier, Korberei oder Schreinerei und gehen dort einfacheren Arbeiten nach. Sie bügeln Handtücher, schnippeln Gemüse klein oder stellen Vogelnistkästen und anderes für die hauseigenen Shops her. Gewisse Gefängnisse ermöglichen es den Inhaftierten, schulische Lücken zu schliessen. Und in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies, der grössten Justizvollzugsanstalt der Schweiz mit 399 Plätzen für straffällige Männer, können Straftäter sogar eine Berufslehre machen.
Nur wenige sind geeignet
Bäcker-Konditor, Gärtner, Koch, Metallbauer – dies nur einige der zwei- oder dreijährigen Berufslehren, die Inhaftierte der JVA Pöschwies durchlaufen können. Die Abschlüsse sind gleichwertig einer Ausbildung in der freien Marktwirtschaft: Es winkt ein Berufsattest oder ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis. «Viele Inhaftierte haben in ihrer Jugend ihre Aus- und Weiterbildungen abgebrochen», sagt Angela Blum, Leiterin Bildung und Freizeit in der JVA Pöschwies. «Wer bei uns eine Berufslehre macht, hat meist noch keinen Abschluss – obwohl er vielleicht schon 40 ist.» Deswegen kann dieser Abschluss in Haft nachgeholt werden. Doch nicht jedem Inhaftierten sei dies vergönnt.
«Von unseren fast 400 Inhaftierten absolvieren jeweils zwischen 5 und 10 eine Berufslehre»
«Wir geben der Berufsbildung ein grosses Gewicht. Von unseren fast 400 Inhaftierten absolvieren jeweils zwischen 5 und 10 eine Berufslehre», sagt Blum. Im Moment sind es deren sieben: ein angehender Reifenpraktiker EBA, ein Schreinerpraktiker EBA, ein Metallbauer EFZ, zwei Köche EFZ und zwei Bäcker-Konditoren EFZ. Rund zwei Drittel der in der JVA Pöschwies Inhaftierten sind nicht Schweizer Staatsbürger. «Dass nur so wenige unserer Inhaftierten eine Lehre machen, liegt an den oftmals mangelnden Deutschkenntnissen oder einem zu niedrigen schulischen Niveau.»
Abmachungen einhalten
Genauso wichtig wie die kognitive Eignung seien Motivation und Zuverlässigkeit. So kann eine inhaftierte Person nicht schon an Tag eins ihrer Haft eine Lehre starten. Ist bei einem Straftäter eine Berufslehre ein Thema, beobachten die Betreuungspersonen und Betriebsleiter*innen vier bis sechs Monate seine Zuverlässigkeit am Arbeitsplatz, Eigenmotivation, Pünktlichkeit und so weiter. «Die Menschen im Vollzug sind es aufgrund vieler Brüche in den Biografien oft nicht gewohnt, etwas über lange Zeit durchzuziehen. Sie haben Mühe mit geregelten Tagesabläufen, kommen zu spät oder halten sich nicht an Abmachungen.» Ein K.-o.-Kriterium, wenn es um eine Berufslehre geht.
Erweist sich ein Inhaftierter hingegen als motiviert und zuverlässig, hat er gute Karten, im Gefängnis eine Lehre anzutreten. «Wir machen dann einen schulischen Eignungstest und schauen, ob er für eine EBA-Lehre oder für eine EFZ-Lehre infrage kommt», erklärt die Aus- und Weiterbildungsverantwortliche. Ist der Test bestanden, schälen der Inhaftierte und die Betreuungspersonen aus den möglichen Berufslehren die für ihn passende heraus. Sofern im gewünschten Gewerbebetrieb eine Lehrstelle frei ist, steht dem Start der Lehre im geschlossenen Vollzug nichts mehr im Weg.
«Die Menschen im Vollzug sind es aufgrund vieler Brüche in den Biografien oft nicht gewohnt, etwas über lange Zeit durchzuziehen.»
Da es nur gerade sieben inhaftierte Männer sind, die in der JVA Pöschwies parallel unterschiedliche Berufslehren machen, kann man sich vorstellen, wie überschaubar die «Berufsschulklassen» sind. «Für die Allgemeinbildung fassen wir die Lehrlinge in Zweier- bis Dreiergruppen zusammen; in der Berufskunde allerdings sind sie allein oder zu zweit.» So drücken der Reifenpraktiker, der Schreinerpraktiker und der Metallbauer im Moment allein die Schulbank.
Wieder Fuss gefasst
«Bei der Berufslehre geht es wie bei allen Bestrebungen im Vollzug um eine möglichst gute Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach der Entlassung aus der Haft», erläutert Blum. Mit einem Lehrabschluss hat ein ehemaliger Straftäter bessere Chancen, im Berufsleben durchzustarten. Genau das im Sinn hat der 34-jährige Mann, der in der JVA Pöschwies gerade die Lehre als Reifenpraktiker macht und diesen Sommer abschliessen wird. Nach seiner Entlassung, deren Datum noch aussteht, wird er voraussichtlich in sein Heimatland zurückkehren. «Er rechnet sich sehr gute Chancen aus, sich in seiner Heimat dereinst mit einer kleinen Garage selbstständig zu machen», so Angela Blum.Alexandra Bucher
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