Gekommen, um zu knipsen
Ich war da! Um die besten Schnappschüsse der unglaublichsten Orte dieser Welt zu schiessen und auf Social Media zu posten, scheuen viele Selfie-Addicts keinen Aufwand. Die Folge: Andrang bis zum Overtourism.
Text: Stephanie Weiss / Bilder: Adobe Stock
Traumhafte Bilder und alle wollen da hin. Die Motivation vieler Reisender ist, möglichst effektvolle Fotos zu schiessen, die auf Instagram und Co. für ordentlich viele Likes sorgen. Kaum ist das Bild gepostet, geht es weiter zum nächsten Bijou oder einer weiteren abenteuerlichen Szene.
Für Likes und Klicks scheuen Instagramer*innen keinen Aufwand. Wichtig dabei: Das Bild sollte Einsamkeit und Exklusivität ausstrahlen. Die Realität sieht oft anders aus, denn rund um die Fotografierenden sind noch viele andere auf der Jagd nach dem perfekten Bild. Trotzdem zieht diese konstruierte Realität Nachahmer*innen an. Viele Orte des Begehrens ächzen unter der Last des sogenannten Overtourism. Nicht nur geht dieser mit noch mehr CO2-Ausstoss einher, auch die Natur und die lokale Bevölkerung leiden unter den Menschenmassen.
«Immer mehr touristische Anbieter setzen ihr Angebot gezielt in Szene.»
Einige Städte wie Barcelona, Amsterdam oder Sevilla sind daran, Massnahmen gegen zu viele Besuchende zu ergreifen. Venedig schreitet aktuell zur Tat, denn mittlerweile erstürmen jährlich 14 Millionen Touristinnen und Touristen die Lagunenstadt. Nun soll an 29 Tagen eine Eintrittsgebühr von fünf Euro für Tagestouristen getestet und ab dem nächsten Jahr definitiv eingeführt werden.
Trophäenjagd 2.0
Nebst den gängigen Touristenhotspots der Schweiz leiden auch einige abgelegene Sehenswürdigkeiten unter der Last knipsfreudiger Instagramerinnen und Instagramer. Einen regelrechten Hype erfasste das Restaurant Aescher, nachdem die Appenzeller Bergbeiz im Fels 2015 durch das National Geographic zur «Destinations of a Lifetime» gekürt wurde. Dabei schaffte es das kleine Berggasthaus auf die Titelseite des gleichnamigen Buches. Ab dann war es vorbei mit dem Bergfrieden. Ganze Horden kamen, um zu knipsen und brachten die Pächter an ihre Grenzen.
Auf die Liste der beliebten Instagram-Sujets mitten in der Natur gehören zudem der Cauma- und der Blausee, der Giessenfall sowie die römische Brücke im Verzasca Tal. Diese lockte nach einem Post eines Mailänders unzählige Instagram-Tourist*innen ins Tal. An den abgelegenen Orten fehlt meist die Infrastruktur, um solche Besucherströme bewältigen zu können. Was auf den Trampelpfaden zurückbleibt, ist liegengelassener Müll und verschreckte Tiere, insbesondere wenn Drohnen zum Einsatz kommen oder Wanderwege verlassen werden.
Manchmal reicht eine Filmszene. So geschehen in Iseltwald, als die koreanische Netflix-Serie «Crash Landing on You» einen regelrechten Ansturm auf das kleine Dorf am Brienzersee auslöste. Massenhaft asiatische Netflix-Fans wollen seither nur eines: am Schiffssteg von Iseltwald ein Foto schiessen. Dort, wo die romantische Schlüsselszene gedreht wurde. Der beschauliche Oberländer Ort wurde buchstäblich überrannt und es kam zu chaotischen Zuständen. Reisecars verstopften die Strassen, die Postautokurse mussten ausgebaut werden und vor dem Schiffsteg bildete sich eine lange Schlange. Nach dem Knipsen verlassen die Fans den Ort rasch wieder, um die Jagd nach Sujets weiterzuverfolgen. Iseltwald hat nichts von diesem Touristenansturm. Deshalb reagierte die Gemeinde und führte im Mai des letzten Jahres eine Reservationspflicht für Reisecars und eine Selfie-Gebühr von fünf Franken am Steg ein.
Peep-Show-Tourismus
Mit ein Treiber dieser Entwicklung ist die Tourismusbranche selber, denn sie nutzt die Social-Media-Kanäle intensiv für Marketingzwecke und das mit Erfolg. Nebst den eigenen Aktivitäten werden oft Influencer*innen engagiert. «Wenn ein Post viral durch die Decke geht, führt dies erwiesenermassen zu einem deutlich höheren Besucheraufkommen», sagt Prof. Dr. Jürg Stettler, Leiter des Instituts für Tourismus und Mobilität der Hochschule Luzern. Welche Posts diesen Effekt auslösen, könne man nicht voraussehen. «Steuern kann ich das nur, wenn ich die Voraussetzungen dafür schaffe.»
Nach dem Knipsen verlassen die Fans den Ort rasch wieder, um die Jagd nach Sujets weiterzuverfolgen.
Ein Beispiel dafür ist die Route Grand Tour of Switzerland, die an bestimmten Aussichtspunkten dazu animiert, ein Bild zu schiessen. Über diese Besucherlenkung lässt sich die sogenannte Instagramability fördern. «Immer mehr touristische Anbieter setzen ihr Angebot gezielt in Szene.» Ein Beispiel dafür ist das Hotel Five in Zürich, welches bewusst attraktive Fotosujets bietet. Dass solche Massnahmen die Bekanntheit steigern, bestätigten mehrere Studien, betont Stettler.
In vielen Fällen kann dies ein Segen sein, mancherorts wird es jedoch zur Last. «Selfie- und Instagram-Tourismus bedeutet viele Besucher mit dem gleichen Verhalten: kommen, knipsen und weitergehen», bringt es Stettler auf den Punkt. Diese Art von Tourismus sei nicht nachhaltig. «Es geht darum, die Highlights abzuknipsen. Das ist Peep-Show-Tourismus.»
Auf die Frage, ob sich die Ströme nicht lenken liessen, wiegelt der Tourismusexperte ab. «Was der Gast selber knipst und postet, kann ich wenig beeinflussen.» Natürlich könne man sich überlegen, den vielen Besuchenden des Schwanenplatzes in Luzern die Biosphäre Entlebuch schmackhaft zu machen. «In der Regel entlastet man so die Hauptattraktion nicht. Der asiatische Tourist geht trotzdem nach Luzern und einige von ihnen vielleicht zusätzlich ins Entlebuch. Wichtig ist, dass die Orte, die man aktiv über Social Media bewirbt, in Bezug auf die Kapazität und Infrastruktur entsprechend vorbereitet sind für den Fall, dass zusätzliche Besucher kommen.» Die Lenkung der Besucherströme über genannte Eintrittsgebühr liesse sich nur umsetzen, wenn die räumlichen Voraussetzungen gegeben seien. Am Schwanenplatz oder der Kapellbrücke in Luzern wäre dies nicht denkbar. Ob es etwa in Venedig funktioniert, wird sich zeigen.
Reiz des Verfalls
Eine spezielle Anziehungskraft geht überdies von bröckelnden Gebäuden aus, den sogenannten Lost Places. Einer der berühmtesten ist das Hotel Belvédère auf dem Furkapass. Das 1882 in die Haarnadelkurve gebaute Gasthaus mit atemberaubender Sicht auf die Alpen steht seit 2015 leer. Nicht so der Parkplatz. Hier herrscht meist Hochbetrieb. Die Faszination vor sich her gammelnder Ruinen grassiert in der Szene der Trophäenjäger*innen. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist das Sanatorium in der Leventina, welches etliche Knipsfreudige anzieht. Nebst solch promienten Gebäuden üben viele weitere verlassene Industrie- und Wohngebäude, Skilifte und Co einen Reiz auf Sujetjägerinnen und -jäger aus.
«Das Wichtigste dabei ist, sich an die Regeln zu halten, also den Ort nicht zu verändern, nur Fussabdrücke zu hinterlassen.»
«Ich finde es interessant, die Stimmung einer stehen gebliebenen Welt zu erleben und diese in Bildern festzuhalten», sagt Andreas F., der gerne Lost Places aufsucht. Es sei spannend, die Geschichten dieser verlassenen Orte zu erfahren und sich ein Bild des Vergangenen zu machen. Diese Erinnerungen wolle er für sich festhalten. «Das Wichtigste dabei ist, sich an die Regeln zu halten, also den Ort nicht zu verändern, nur Fussabdrücke zu hinterlassen.» Andreas F. hält sich daran und ist sich bewusst, dass er sich in einer rechtlichen Grauzone bewegt, denn wer ohne Erlaubnis des Hausbesitzers ein Gebäude betritt, begeht Hausfriedensbruch. Für viele mag genau dieser Reiz des Illegalen ein besonderer Kick sein.
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