Die Handorgel gehört zu den Instrumenten, die neben Schwyzerörgeli, Klavier und Streichinstrumenten an den traditionellen «Stobeten» in manchem Appenzeller Restaurant zu hören sind. Dazu wird gejodelt und getanzt – in Appenzeller Tracht oder in ganz gewöhnlichen Alltagskleidern.
Die Handorgel gehört zu den Instrumenten, die neben Schwyzerörgeli, Klavier und Streichinstrumenten an den traditionellen «Stobeten» in manchem Appenzeller Restaurant zu hören sind. Dazu wird gejodelt und getanzt – in Appenzeller Tracht oder in ganz gewöhnlichen Alltagskleidern. Credit: Rene Niederer, artwiese.ch
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Kontrastreiches Appenzell

Scheinbar mühelos gelingt dem Appenzellerland der Spagat zwischen Brauchtum und Moderne. Entdeckungstour durch eine Region voller spannender Kontraste.

Andreas Zurbriggen

Das Appenzellerland ist auch: endlose Weite! Gemächlich und unspektakulär schlängelt sich der Wanderweg vom 500-Seelen-Dorf Eggerstanden zur Bildstein-Kapelle. Was einem dabei den Atem verschlägt: der Ausblick in eine schier unbegrenzte Ferne, ins Rheintal hinunter und hinüber zu den österreichischen Alpen. Nur wenige Minuten später eröffnet sich eine gänzlich andere Szenerie. Mitten im Wald lädt die unaufdringliche Idylle des Forstseelis zum Verweilen und Bräteln ein. Eine Feuerstelle steht zur Verfügung.

Und plötzlich sind sie da. Nach einem kurzen Anstieg zeigen sie sich in ihrer schönsten Pracht: die Gipfel des Alpsteingebirges. Von der Terrasse des Restaurants Eggli lassen sie sich auf halbem Weg zurück nach Eggerstanden besonders gut bestaunen. Nur: Was um Himmels Willen ist ein «Hohrogge Schtiik»? Die Speisekarte vom Restaurant Eggli steht konsequent im Appenzeller Dialekt geschrieben, was zur sympathischen Atmosphäre des Restaurants passt. Aus den Lautsprechern erklingt lüpfige Blasmusik.

Auf einem anderen Planeten

Zwei Stunden später fühle ich mich wie auf einem anderen Planeten. Ich lausche einer Gesprächsrunde im Zeughaus Teufen. In diesem zum Museum umfunktionierten Gebäude, das eine Ausstellung über die Teufner Baumeisterfamilie Grubenmann beherbergt, wird auch aktueller zeitgenössischer Kunst Platz eingeräumt. Künstler*innen oder Künstlerkollektive erhalten die Möglichkeit, den ersten Stock mit ihren Werken zu bespielen. Die Ausstellungen wechseln rund alle drei Monate.

Das Appenzellerland überrascht einen immer wieder mit seinem Facettenreichtum.

Die Diskussion, in die ich unerwartet hineinplatze, kreist um Themen wie globale Lohngerechtigkeit, die Ressourcenverschwendung in der Kleiderproduktion und spannt geschickt Bögen von der jesuitischen Theologie bis zur amerikanischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Das andächtig lauschende Publikum ist äusserst chic und modisch gekleidet. In einem Kunstsalon in Mailand oder New York sähe es nicht anders aus. Grösser könnte der Kontrast zur urchigen Atmosphäre im Restaurant Eggli nicht sein. Das Appenzellerland überrascht einen immer wieder mit seinem Facettenreichtum.

Reiz des Urtümlichen

Wohl keine Region in der Schweiz schafft so mühelos den Spagat zwischen gelebtem Brauchtum und avantgardistischer Moderne. Das Zeughaus Teufen oder die Kunsthalle Appenzell brauchen sich vor den Museen für moderne Kunst in grossen Städten nicht zu verstecken. Auf der anderen Seite des Spektrums betört das Appenzellerland durch urtümlichen Charme, der lebendig wirkt und deshalb nicht weniger modern als die futuristische Architektur des Kunstmuseums Appenzell.

Vorab die Appenzeller Ziegen und die Kinder, dahinter Kühe, Rinder und Kälber, angeführt vom Senn in der Festtagstracht: Der Alpaufzug ist eine jahrhundertealte Tradition, die im Appenzellerland bis heute gepflegt wird
Vorab die Appenzeller Ziegen und die Kinder, dahinter Kühe, Rinder und Kälber, angeführt vom Senn in der Festtagstracht: Der Alpaufzug ist eine jahrhundertealte Tradition, die im Appenzellerland bis heute gepflegt wird Credit: Rene Niederer, artwiese.ch
Auch der unverwechselbare Naturjodel wird nicht der Tourist*innen wegen inszeniert, sondern gelebt.
Auch der unverwechselbare Naturjodel wird nicht der Tourist*innen wegen inszeniert, sondern gelebt. Credit: Rene Niederer, artwiese.ch
Neben vielem Althergebrachtem hat aber auch aktuelles Kulturschaffen Platz. Das Kunstmuseum Appenzell (mittleres Bild) ist der modernen und zeitgenössischen Kunst gewidmet. Gebaut wurde es vom renommierten Architekturbüro Gigon/Guyer.
Neben vielem Althergebrachtem hat aber auch aktuelles Kulturschaffen Platz. Das Kunstmuseum Appenzell (mittleres Bild) ist der modernen und zeitgenössischen Kunst gewidmet. Gebaut wurde es vom renommierten Architekturbüro Gigon/Guyer. Credit: Hanspeter Schiess

Im Unterschied zu vielen anderen Teilen der Schweiz wird das Urtümliche in Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden nicht für die Touristinnen und Touristen inszeniert, sondern noch wirklich gelebt. Ein gelebtes Brauchtum, das sich am Wegrand miterleben lässt, sind die Alpaufzüge in der Zeit des späten Frühlings und frühen Sommers. Für so manche Bauernfamilie ist die Alpfahrt der schönste Tag im Jahr. Erreicht das Gras auf den Alpen die passende Grösse werden die Tiere im Talgrund eingereiht, der «Lediwagen» mit allen Sennereigeräten beladen und es beginnt ein eindrückliches Schauspiel mit einer jahrhundertealten Choreografie.

Gebimmelte Alpensymphonie

Angeführt wird ein Alpaufzug von Appenzellerziegen, die durch Kinder im Zaum gehalten werden. Dahinter folgen die Kühe, Rinder und Kälber. Eingekleidet in eine Festtagstracht geht der Senn den Kühen voran. Diese tragen Schellen und bimmeln eine Alpensymphonie. Am Schluss der Parade geht der stolze Besitzer der Viehherde, begleitet von seinem treuen Appenzeller Sennenhund, dem «Bläss».

Für so manche Bauernfamilie ist die Alpfahrt der schönste Tag im Jahr

Wer den Zeitpunkt der Alpfahrt oder des Silvesterchlausen verpasst hat oder Näheres über den Brauch des «Bloch» erfahren möchte, erhält im Appenzeller Brauchtumsmuseum in Urnäsch Einblicke in den reichhaltigen Fundus der Appenzeller Traditionen. Das Museum ist in einem historischen Gebäude untergebracht, das allein einen Besuch wert ist. Zu entdecken gibt es etwa gediegene Kopfbedeckungen der Silvesterchläuse, die sogenannten Hauben, oder es lassen sich traditionelle Appenzeller Musikinstrumente ausprobieren: vom Hackbrett bis zum Teller fürs Talerschwingen. Ein Panorama der Appenzeller Bräuche wird ebenfalls im Appenzeller Volkskundemuseum in Stein ausgebreitet. Wer am richtigen Moment kommt, kann dort sogar einem Sennen beim Käsen zuschauen.

Urchige «Stobete»

Im Restaurant Rössli Appenzell scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Urchig ist die Innenausstattung, urchig die angebotenen Speisen. Eine zeitlose Urschweiz trotzt dort unweit des Bahnhofs von Appenzell Dorf den Angriffen einer öden gleich machenden Moderne. Besonders an den Donnerstagabenden erwacht das Restaurant Rössli zu prallem Leben. Dann ist «Stobete» angesagt und es wird aus dem Stegreif musiziert. Mit Hilfe von Instrumenten wie Schwyzerörgeli, Handorgel, Klavier oder Bassgeige erklingen lüpfige Schottisch und nostalgische Ländler.

Eine zeitlose Urschweiz trotzt dort unweit des Bahnhofs von Appenzell Dorf den Angriffen einer öden gleich machenden Moderne.

So behaglich ein Eintauchen in die Schweizer Urtümlichkeit auch sein mag, ab und zu sehnt man sich nach einer Prise Weltläufigkeit. Diese lässt sich einige Strassen weiter, im Kern des äusserst pittoresken Dorfes Appenzell, im Bücherladen einatmen. Carol Forster gründete den Bücherladen 1992. Seitdem steht diese Buchhandlung für eine distinguierte Auswahl an Büchern, wie sie nur noch in ganz wenigen Buchhandlungen anzutreffen ist. Jeder Winkel des Bücherladens atmet Welt und verlockt zum Eintauchen in literarische Welten.

Und ewig lockt der Säntis

Das Appenzellerland hat in den letzten 200 Jahren viele hervorragende Bauernmaler hervorgebracht, die Motive aus dem ruralen Alltag in ihre oftmals naiv wirkende Malerei integriert haben. Eine Bauernmalerin jedoch sticht besonders hervor, die dieses Genre auf ein ganz anderes Level brachte und zugleich neu erfand. Gemeint ist Sibylle Neff (1929–2010), die zuerst in der Art der traditionellen Appenzeller Bauernmalerei ihre Kunst anfertigte, deren Grenzen aber bald einmal zu sprengen wusste. Eindrückliche Kunstwerke von ihr hängen im Museum Appenzell.

Wer Motive aus der Bauernmalerei in natura entdecken will, braucht im Appenzellerland nicht weit zu suchen. Idyllisch in der Hügellandschaft gelegene Bauernhöfe prägen das Landschaftsbild beider Appenzell. An solchen Bauernhöfen führt auch eine empfehlenswerte Rundwanderung zum Hochhamm vorbei. Von Schönengrund wählt man dabei nicht den direktesten Weg hoch zum Aussichtspunkt, sondern macht einen kleinen Umweg über Chäseren. Auf der folgenden Gratwanderung zum Bergrestaurant Hochhamm kommt man in den Genuss einer Aussicht, an die man noch lange denken wird: im Süden der Säntis, im Westen eine Sicht bis zum Pilatus und Tödi und im Norden freie Sicht auf den Bodensee.

Themenspezifische Specials

Mit themenspezifischen Specials, welche als zusätzlicher Zeitungsbund erscheinen, bietet die Berner Zeitung und Der Bund ihren Leserinnen und Lesern regelmässig einen attraktiven Mehrwert.