Er gibt den Menschen am Rand der Gesellschaft eine Stimme
Nach 20 Jahren als Professor an der Uni Bern beschloss Klaus Petrus, als Fotojournalist und Reporter zu arbeiten. Daneben ist er als Co-Leiter der Redaktion des Strassenmagazins «Surprise» tätig. Seine Geschichten handeln von Menschen am Rand der Gesellschaft und im Krieg.
Philippe Welti
Fotografiert hat Klaus Petrus als Autodidakt schon immer, während des Studiums hatte er auch einige Artikel in Lokalzeitungen verfasst. Doch als er Mitte 40 das neue Kapitel seines beruflichen Lebens aufschlägt, hat er von Journalismus wenig Ahnung. Was er aber weiss: «Der Jobwechsel macht ökonomisch wenig Sinn.» An der Uni Bern hat er nicht nur eine gut bezahlte Forschungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds, er tut auch etwas, das er liebt. Er setzt sich als Philosophieprofessor mit sprachlicher Logik auseinander. Er nennt es «Mathematik in Sprachform». Irgendwann aber fragt er sich: Will ich das auch noch in 20 Jahren machen?
Schliesslich folgt Petrus seiner Überzeugung. Denn so gerne er sich mit Sprache auseinandersetzt, so gerne beschäftigt er sich auch mit Menschen in Extremsituationen am Rand der Gesellschaft und mit den Themen Armut, Migration, Krieg und Krisen. Im Journalismus kann er seine Interessen unter einen Hut bringen.
Das war vor bald zehn Jahren. Einen Plan B hatte Petrus nicht: «Ich habe schon immer versucht, mich voll auf das zu fokussieren, was ich gerade mache.» Er gibt sich ein Jahr, um Leute in den Medien und in den Gebieten, die ihn interessierten, kennenzulernen. Dann will er seine Reportagen verkaufen können. Dies ausgerechnet in Zeiten, in denen es mit dem Journalismus bergab geht. Den gedruckten Zeitungen bricht die Werbung weg, die Medien darben und auf den Redaktionen wird gespart.
«Anders als Ärzte oder Therapeuten können wir Journalisten den Menschen in Krisen- oder Kriegsgebieten nicht helfen.»
Petrus hat es geschafft. Er kann vom Journalismus leben. Er schreibt das auch der Tatsache zu, dass er sowohl Texte als auch Bilder anbieten kann. Heute lebt er in Biel, verdient zwar wesentlich weniger als ein Uniprofessor, doch er führt ein spannendes Leben. Und: Er ist glücklich. Seine Bilder und Artikel erscheinen heute nicht nur in «Surprise», wo er Redaktor ist, sondern auch in der «NZZ», in der «WoZ», in der «Süddeutschen Zeitung» oder der «Frankfurter Rundschau». Mit seinen Reportagen ist er bereits zweimal mit dem Swiss Press Photo Award ausgezeichnet worden.
Was eine Somalierin und einen Ukrainer verbindet
Aber viel wichtiger: Die Geschichten, die man von ihm in den Medien lesen kann, sind überraschend und einzigartig. So wie jene, die darauf eingeht, was die Ziegenhirtin Maylun mit ihrem Sohn Hassan in Somalia und dem Weizenbauer Gregory in der Ukraine verbindet. Petrus hat sie bei Reportagen kennengelernt und stellt den Zusammenhang her. Die Somalierin und ihr Sohn haben Hunger, weil der Ukrainer seinen Weizen wegen des Ukraine-Krieges nicht exportieren kann.
«Grenzen, Mauern und Ränder haben mich schon immer fasziniert und treiben mich um – auch, weil es dort immer wieder zu Konflikten kommt», sagt er. Für ihn war beispielsweise klar, dass er sich ab 2015 der sogenannten «Migrationskrise» widmen will.
Seine Reportagen verfasst er nie aus der sicheren Distanz in der warmen Stube, sondern er macht sich ein Bild vor Ort. Die Texte nehmen immer die Perspektive der Betroffenen ein. Dies macht seine Geschichten so authentisch und für die Leser*innen nachvollziehbar.
Petrus verreist mehrmals im Jahr ins Ausland. Einmal ist er auf der Balkanroute unterwegs mit Geflüchteten, die nach Westeuropa wollen, dann wieder im Nahen Osten, an der Frontlinie in der Ukraine, in Uganda oder in Hungergebieten von Somalia.
Er will die Welt verstehen
Natürlich möchte er gerne die Welt zum Besseren verändern, zumindest ein bisschen, sagt Petrus, um gleich anzufügen, dass dieser Anspruch an seine Arbeit jedoch vermessen sei. Journalisten könnten in aller Regel keine Kriege verhindern oder beenden, das liege nicht in ihrer Macht. Vielmehr würden sie ihren Job aus einem inneren Drang heraus machen, die Komplexität der Welt zu verstehen.
«Anders als Ärzte oder Therapeuten können wir Journalisten den Menschen in Krisen- oder Kriegsgebieten nicht helfen.» Es kommt vor, dass Petrus an einen Schauplatz einer Reportage zurückkehrt und feststellen muss, dass die Leute, mit denen er dort geredet hat, inzwischen tot sind.
Natürlich sei er als Journalist in einer privilegierten Lage, sagt Petrus. Nach ein paar Tagen oder Wochen im Kriegs- oder Hungergebiet verlässt er die Menschen vor Ort und kehrt in die sichere Schweiz zurück. Aus diesem Grund habe er auch «latent ein schlechtes Gewissen». Er hat gelernt, damit umzugehen. Könnte er das nicht, könnte er seinen Job nicht mehr machen. Ob man ihm schon vorgeworfen habe, er sei ein Profiteur des Leids der anderen? Ja, sagt er und fügt an: «Das hat schon etwas.» Andererseits mache seine Arbeit für die Menschen, denen er in Krisengebieten begegnet, auch Sinn. «Es ist ihnen wichtig, dass die Welt von ihrer Situation erfährt. Doch davon allein haben sie natürlich noch nicht gegessen oder sind in Sicherheit.»
Auch in der Schweiz: Menschen am Rand
Mit dem Elend beschäftigt sich Klaus Petrus auch in der Schweiz. 2023 veröffentlichte er sein Buch «Am Rand», eine Sammlung von Lebensgeschichten, die Einblick geben in Schicksale, die sich hinter der Tür der Nachbarin, des Nachbars abspielen könnten. Kaum jemand kennt diese scheinbar normalen Menschen, die zwar unter uns, aber auch am Rande der Gesellschaft leben.
«Grenzen, Mauern und Ränder haben mich schon immer fasziniert und treiben mich um.»
In einer nüchternen Sprache erzählt Petrus zum Beispiel von einem Familienvater, der 1300 Mal bei einer Prostituierten war, einer Bettlerin oder einem Alkoholiker. Die Bilder und Texte sind eindringlich, einfühlsam, «fadegrad». Und die Geschichten führen uns vor Augen: Ein Absturz kann jeden von uns treffen.
Die Gesellschaft stempelt Randständige zum Beispiel als Bettler oder Trinkerinnen ab. «Im Gespräch zeigt sich dann, dass es sich dabei um Menschen handelt, die weit mehr sind als die Rollen, die ihnen zugewiesen werden. Diese Widersprüchlichkeit will ich aufzeigen. Im besten Fall führt dies zu mehr Toleranz», sagt Petrus.
Der Fotojournalist ist wie immer voller Pläne und auf Achse. Vor Weihnachten war er in der Westbank, wo er für eine Reportage über das Leben der Palästinenser*innen recherchierte. Und in er ersten Januarwoche reiste er zum wiederholten Mal an die bosnisch-kroatische Grenze, wo er über Geflüchtete berichtet, für die der Balkan zur Sackgasse wird. Und so soll es auch weitergehen in seinem Leben – solange er körperlich fit ist und es ihm wichtig genug ist, vorgefasste Meinungen mit seinen Reporten zu hinterfragen. «Das ist, was ich machen will.»
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