Wie Ueli Ramseier seinen Traum von Schweizer Seide wahr machte
Seit 15 Jahren wird in der Schweiz wieder Seide produziert – vom Maulbeerbaum bis zur Krawatte. Der Kopf hinter dieser Renaissance ist Ueli Ramseier vom Bergfeld-Hof in Hinterkappelen. Er erzählt, wie er die alte Tradition aufleben liess und wo für ihn die Grenzen des Wachstums liegen.
Andreas Minder
Lange, dünne Wassertriebe wachsen aus den kurzen Stämmen der Maulbeerbäume. Ihre Stunde hat geschlagen. Ueli Ramseier schneidet sie mit der Baumschere alle ab. Übrig bleibt fast nur noch der Stamm. Doch nicht für lang. Bald werden neue Zweige ausschlagen. An diesen werden die Blätter wachsen, die Seidenraupen so gerne verspeisen. Durch den strengen Schnitt spriessen die Blätter auf einer Höhe, auf der sie bequem von Hand geerntet werden können.
Das Schneiden der Bäume ist die erste Arbeit im Jahreszyklus der Seidenproduktion. «Ich mache das wahnsinnig gern», sagt Ueli Ramseier. Es ist Anfang Februar, der Seidenpionier steht auf dem Bergfeld Hinterkappelen, eine Parzelle, die nördlich und etwas oberhalb des Dorfs liegt. 700 Bäume stehen in Reih und Glied. Es sind 36 Varietäten des Weissen Maulbeerbaums. Ueli Ramseier hat sie zusammen mit seiner Frau Bettina Clavadetscher 2009 gepflanzt. Erhalten hat er die Pflanzen vom französischen Forschungsinstitut für Landwirtschaft in Lyon. Es war auch in Frankreich, wo er auf die Idee gekommen ist, in der Schweiz wieder Seide herzustellen.
1985 waren er und sein Vater in den Cevennen auf Seidenproduzentinnen und -produzenten gestossen und waren fasziniert von ihrem Metier. Dass danach noch so viele Jahre ins Land zogen, bis Ramseier zur Tat schritt, hat mit seiner ungewöhnlichen Laufbahn zu tun. Als er mit 44 Jahren die Ausbildung zum Landwirt machte, hat er zuvor das Lehrerseminar Muristalden, die Ausbildung zum Textilingenieur in Wien und Studien in Ethnologie, Religionswissenschaften und Biochemie absolviert. Seine berufliche Tätigkeit in der internationalen Zusammenarbeit führte ihn für einige Jahre nach Papua-Neuguinea.
Nur das Fressen im Kopf
Anfang Juli werden in der ehemaligen Garage im Tiefparterre des Bergfeld-Hofs in Hinterkappelen 20 000 Raupen aus den Eiern schlüpfen. Die zwei Millimeter kurzen Winzlinge leben auf Netzen, die in einer Art Bettgestellen aufgespannt sind. Viermal täglich bekommen sie ihre Portion Maulbeerblätter. Eine laufend grösser werdende Portion. Nach gut drei Wochen verputzen die inzwischen auf Zeigefingerlänge herangewachsenen Raupen jeden Tag 100 Kilogramm Blätter – und produzieren jede Menge Mist. In dieser Zeit nehmen Ueli Ramseier, sein Sohn Kaspar und Bettina Clavadetscher in der Regel Ferien von ihren anderen Jobs, um der Arbeit gewachsen zu sein. «Zudem haben wir Freunde, die uns unterstützen.»
«Wir wollen nur so lange wachsen, wie die Geschäftspartnerinnen und -partner auch Freundinnen und Freunde sein können.»
Zum Füttern der Vielfrasse kommen regelmässige Hofführungen. «Sie tragen wesentlich zu unserem Einkommen bei», sagt Ramseier. Auch weil die Gäste am Schluss den Hofladen besuchen und für Umsatz sorgen. Die Raupen dürfen sie übrigens nur durch die grossen Scheiben betrachten. «Wir müssen sehr auf Hygiene achten.» Die hochgezüchteten Seidenspinner sind sehr anfällig auf Parasiten, Schimmelpilze und andere Schädlinge. «Zu Beginn haben wir ganze Aufzuchten verloren», erinnert sich Ramseier. Ebenfalls tödlich sind für die Raupen naturgemäss Insektizide, weshalb die Maulbeerbäume nicht gespritzt werden dürfen.
Erste Raupen im Badezimmer
Nach einem knappen Monat spüren die Raupen, dass es Zeit ist für die Metamorphose. Sie beginnen mit dem Bau der Kokons. Dafür kriechen sie in die sogenannten Spinnhütten, die Abteile eines Gitters aus Karton, das über den «Betten» der Raupen aufgehängt wird. Nach ungefähr drei Tagen sind die Kokons fertig und die Raupen verpuppen sich darin. In einem Ofen werden sie getrocknet, was die Puppen nicht überleben. So wird verhindert, dass die Falter nach dem Schlüpfen das Kokon zerbeissen. Dann nimmt Ramseier die nächsten 20 000 Eier – er bezieht sie von einem spezialisierten Institut in Padua – aus dem Kühlschrank. Die zweite von meist drei Generationen pro Jahr wächst heran.
2004 hatte Ueli Ramseier die ersten praktischen Erfahrungen mit Maulbeerbäumen gesammelt. Im Garten des Hauses seiner Eltern in Hünibach pflanzte er selbst gezogene Stecklinge. Fünf Jahre später konnte er in Hinterkappelen zwei Hektaren Land pachten. Nun wurde aus den Versuchen ernst, wobei immer noch viel Improvisation dabei war. Die ersten Raupen wuchsen in einem Badezimmer heran.
Mit Gleichgesinnten zum Ziel
Ueli Ramseier war schon immer klar gewesen, dass sein Traum von der Renaissance der Seidenproduktion nicht im Alleingang zu verwirklichen war. Er brauchte Verbündete. Er hatte deshalb nach Bäuerinnen und Bauern gesucht, die an einem neuen Betriebszweig interessiert waren und nach Partnerinnen und Partnern, die die Seidenfäden verarbeiten und verkaufen würden. 2009 hatten sich genügend Seidenbegeisterte gefunden. Sie gründeten die Vereinigung der Schweizer Seidenproduzentinnen «swiss silk». Im Jahr darauf importierte Ramseier aus Indien eine Maschine zum Aufwickeln der Seidenfäden und reiste für zwei Wochen nach Bangalore, um zu lernen, wie man die Maschine bedient.
Heute steht die Abhaspelmaschine in der ehemaligen Post in Bolligen. Im Winterhalbjahr werden hier die Kokons zu Seide. Acht Personen, darunter Ueli Ramseier, arbeiten jeweils in Zweierteams. Sie weichen die Kokons in Wasser ein, damit sich der natürliche Leim, der die feinen Fäden des Kokons zusammenklebt, auflöst. Dann werden die Fadenenden herausgefischt und auf die Spulen der Abhaspelmaschine aufgewickelt. Aus dem Garn, das so entsteht, machen Partner aus der Schweizer Textilindustrie Seidenstoffe und -produkte.
Flüssige Seide
In der letzten Saison entstanden aus 250 Kilogramm Kokons 300 Quadratmeter hochwertige Seide. Dafür wird der beste Faden aus der Mitte des Kokons verwendet. Aus den äusseren Schichten und den Fäden, mit denen die Raupen das Kokon am Karton befestigen, wird sogenannte Schappe. Diese Seide glänzt weniger und ist etwas rauer. Seit drei Jahren gehört ausserdem flüssige Seide zur Produktpalette. Sie wird von einer Firma aus Deutschland hergestellt und kommt bei medizinischen Implantaten zum Einsatz. «Sie haben sich für uns entschieden, weil wir die Produktion lückenlos dokumentieren», sagt Ramseier. Die Rückverfolgbarkeit ist in der Medizin zwingend.
Der Bergfeld-Hof und die anderen
14 landwirtschaftlichen Raupenzüchterinnen und -züchter erhalten pro Kilo Kokons je nach Qualität 35 bis 45 Franken. Der Preis wird nicht vom Markt festgelegt, sondern von den Produzentinnen und Produzenten selbst. Er sollte ihnen zusammen mit den Einnahmen aus den kostenpflichtigen Hofführungen und den Verkäufen der Hofläden und Webshops einen Stundenlohn von 20 Franken sichern. «Mit diesen Preisen ist unsere Seide etwa zehn Mal so teuer, wie importierte Ware», sagt Ramseier. Trotzdem geht die aktuell produzierte Menge ohne Weiteres weg.
Der Seidenpionier geht davon aus, dass es noch Platz hat für weitere Produzentinnen und Produzenten. Für ihn soll es aber nicht allein die Nachfrage sein, die das Wachstum und seine Grenzen bestimmt. «Wir wollen nur so lange wachsen, wie die Geschäftspartnerinnen und -partner auch Freundinnen und Freunde sein können.» Damit Verträge auch weiterhin per Handschlag abgeschlossen werden können.
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