«Ich bin eine A-la-carte-Grossmutter»
Rosmarie Brunner kämpft im Verein Grossmütter-Revolution für die gesellschaftliche Wertschätzung der Arbeit von Grosseltern. Sie findet, Enkelkinder hüten sollte keine Selbstverständlichkeit sein.
Sarah Sartorius
Im Lokal, in dem wir uns zum Gespräch treffen, wird einmal im Jahr ein Brunch speziell für Grosseltern ausgerichtet. Als Dank für die «Liebe und Geborgenheit, welche Grosseltern ihren Enkelkindern geben.» Dafür hat Rosmarie Brunner ein mildes Lächeln übrig: «Das ist nett gemeint. Aber dabei geht es um eine private Anerkennung. Was fehlt, ist die gesellschaftliche Wertschätzung der Grosseltern.»
Seit 2019 engagiert sich die 66-Jährige deshalb im Verein Grossmütter-Revolution, der sich für politische und gesellschaftliche Anliegen einsetzt, den Austausch fördert und sich als «Stimme engagierter alter Frauen» sieht. Das nationale Projekt wurde 12 Jahre lang vom Migros Kulturprozent gefördert, seit 2022 wird es als unabhängiger Verein geführt, eingeteilt in regionale Foren und Arbeitsgruppen. 133 Mitglieder – oder «Mitwyber» in der Sprache der Mitgliederfrauen – zählt die Plattform, die allen Frauen offensteht, auch «nicht biologischen» Grossmüttern.
Auch ohne Enkelkinder lebendig
Rosmarie Brunner selbst hat sechs «angeschmuste» Grosskinder, wie sie es nennt, will heissen, es sind die leiblichen Grosskinder ihres Mannes. Das jüngste ist 2, das älteste 18 Jahre alt. Dass die Grosseltern ganz selbstverständlich die Grosskinder hüten, sobald diese auf der Welt sind, ist für Brunner kein Muss. Wichtig sei es, im Voraus abzuklären, wer welches Bedürfnis habe und zwar von Seiten der Eltern wie auch von den Grosseltern. «Mein Mann und ich sind A-la-carte-Grosseltern. Wir haben keine fixen Tage, an denen wir hüten, aber wenn es uns braucht, stehen wir selbstverständlich sofort auf der Matte.»
«Was fehlt, ist die gesellschaftliche Wertschätzung der Grosseltern.»
Dieser Abmachung liegt ein Vorgespräch zugrunde, das Brunner sehr geschätzt hat. «Die jüngste Tochter meines Mannes fragte uns noch bevor sie schwanger wurde, ob wir uns das regelmässige Hüten vorstellen könnten, oder eher nicht. Ich fand das grossartig.»
Die Theologin, die ihr Leben lang im Beruf ausgefüllte Tage hatte, wollte nicht erneut eingespannt sein. Sie und ihr Partner entschieden sich für das Hüten auf Abruf. Was nicht heisst, dass sie wenig zu den Grosskindern schauen. Das kann dafür gut einmal für ein Wochenende, eine ganze Woche sein oder kurzfristig bei einem plötzlichen Engpass. Was sie stutzig macht, ist der oft genannte Satz: «Die Grosskinder bringen Leben in die Bude.» So sehr sie ihre Enkelinnen und Enkel liebe: «Ich fühle mich auch ohne sie immer noch ziemlich lebendig», sagt sie.
Die Baslerin ist im feministischen Aufbruch der 1970er-Jahre politisiert worden und engagiert sich seit ihren Zwanzigern für Frauenrechte und Gleichstellung. «Das ist für mich selbstverständlich», sagt sie. «Bei der Grossmütter-Revolution setze ich mich nun einfach für alte Frauen ein.» Eigentlich sei sie auf der Suche gewesen nach einem Anschluss an «Omas gegen rechts», die Organisation setzt sich gegen den wachsenden Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus ein. Gelandet ist sie schliesslich bei der Grossmütter-Revolution. «Das ‹Revolution› im Titel hat mich angesprochen», sagt sie schmunzelnd. «Revolution bedeutet, dass wir uns vorstellen können, dass die Welt auch anders aussehen könnte, ein bisschen wohltuender für Jung und Alt.»
Unsichtbare Grosseltern
Seit 2022 ist Rosmarie Brunner Vorstandspräsidentin und seit 2019 im Regio Forum Basel aktiv. Ein besonderes Anliegen ist ihr das Vorantreiben der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wertschätzung der Care-Arbeit, zu der eben auch das Enkelkinderhüten gehört. «Nicht nur Lohnarbeit ist wertvolle Arbeit. Die Bereitschaft der Grosseltern, die Enkelkinder zu hüten, ist wie alle Care-Arbeit die Basis der Wirtschaft. Kinder hüten ist nichts Privates, sondern geht die ganze Gesellschaft an. Deshalb habe ich Mühe damit, dass die Arbeit der Grosseltern ins Private abgeschoben wird und ausschliesslich auf emotionaler Ebene diskutiert wird.»
«Nicht nur Lohnarbeit ist wertvolle Arbeit. Die Bereitschaft der Grosseltern, die Enkelkinder zu hüten, ist wie alle Care-Arbeit die Basis der Wirtschaft.»
Laut Bundesamt für Statistik hüten Grosseltern ihre Enkelkinder 160 Millionen Stunden im Jahr. Das entspricht einer Wirtschaftsleistung von rund 8 Milliarden Franken. Wie kann diese Leistung estimiert und auf politischer Ebene diskutiert werden? Das ist eines der grossen Diskussionsthemen der Grossmütter-Revolution. «Für viele sind Grossmütter in der Kindheit und auch später wichtige Bezugspersonen. Grossmutter ist eines der wenigen Wörter für alte Frauen, das positiv konnotiert ist. Aber gesamtgesellschaftlich werden sie unsichtbar gemacht. Wieso nur?»
Der Versuch mancher politischer Kräfte, die Gesellschaft zu spalten, auch in Jung und Alt, das beschäftigt sie. Es gehe nicht darum zu schauen, was uns unterscheidet, sondern was uns vereint. Dazu gehört für Rosmarie Brunner das Gespräch zwischen den Generationen, etwa zwischen der Klimajugend und den Klima-Senior*innen.
Keine «Hintergrund-Grosis»
«Ich bezeichne mich selbst als alte Frau und habe kein Problem damit. Es ist ja kein Verbrechen alt zu sein.» Der Überbewertung der Jugend steht sie skeptisch gegenüber, die Pubertät und auch die Jahre, in denen Berufseinstieg und Familienplanung im Vordergrund stehen, empfand sie bei sich und ihrem Umfeld als alles andere als einfach.
«Auch wenn es kleinere und grössere Beschwerden mit sich bringt: Ich finde alt sein ziemlich cool.» Sie versuche, jede Lebensphase so hinzunehmen, wie sie ist: «Manchmal schmeisst einem das Leben einen Haufen Mist vor die Füsse und manchmal hebt es einen in den siebten Himmel.»
«Ich bezeichne mich selbst als alte Frau und habe kein Problem damit. Es ist ja kein Verbrechen alt zu sein.»
Mit einem 2022 erschienenen Kalender haben Rosmarie Brunner und ihre Mitstreiterinnen der Grossmütter-Revolution ein Tabu gebrochen: Sie haben sich nackt ablichten lassen. «Wir ersetzen die Frauenbilder, die sich bei vielen Menschen zwischen Pirelli-Girls und Hintergrund-Grosis festgefahren haben (…) Eine alte Frau zu sein ist schön!» steht im Begleittext. Jeder Monat ist mit einem Leitspruch versehen. «Erfahrung ist unser Kapital», «Aussen antik, innen kostbar», oder «Alt, aber laut» steht da zum Beispiel.
«Es geht uns ums Sichtbarmachen und Enttabuisieren von alten Körpern, weg von der Fremdscham.» Sie selbst habe keine Mühe mit ihrem Körper und allem, was er an Lebenserfahrung mit sich bringe. Lustigerweise würden ihre Enkelinnen den Kalender immer wieder fasziniert anschauen, erzählt sie. Auch darum geht es Rosmarie Brunner in ihrer aktivistischen Arbeit: die festgefahrenen Rollenbilder aufzuweichen – und damit beginnt man am besten bei der jüngsten Generation.
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